Wie viel Politik braucht die Digitalisierung?
Die Politik und der Staat sind nicht die Treiber der Digitalisierung, darin sind sich Bundespräsident Johann Schneider-Ammann und der Digitalisierungsexperte Joël Luc Cachelin einig. Welche Rolle sie spielen sollen, darüber gehen ihre Meinungen allerdings stark auseinander.

„Die Zukunft, von der wir in den Siebziger Jahren als junge Ingenieure träumten, ist heute dank der rasanten Entwicklung der Technologie in greifbare Nähe gerückt.“ Dies sagte Bundesrat Johann Schneider-Ammann anlässlich der Eröffnung der CeBIT 2016 am 14. März 2016 in Hannover, an welcher die Schweiz Partnerland war. Er erwartet, an der nächsten Strassenecke schon bald Roboter und selbstfahrende Autos anzutreffen. Der Magistrat betonte, dass die Schweiz nicht wenig zu solchen Entwicklungen beigetragen habe.
Unserem Bundespräsidenten ist bewusst, dass die digitale Revolution die Gesellschaft vor grosse Herausforderungen stellt: „Damit die technologischen Errungenschaften nicht nur eine Angelegenheit von Entwicklern, Produzenten und Konsumenten ist – sondern auch von Bürgern – muss die Zukunft bildlich gesprochen wieder bei allen Mitgliedern unserer Gesellschaft ankommen“, betonte Schneider-Ammann. Dies sei wohl nicht immer der Fall.
Staat als Garant für gute Rahmenbedingungen…
Für den Bundesrat muss die digitale Zukunft auf drei Pfeilern fussen: Freiheit, Sicherheit und Wissen. Als Liberaler sieht er die Rolle der Politik dabei eher an einem kleinen Ort. Schneider-Ammann glaubt nicht, dass es einem staatlichen Gremium gelingen kann, „den Überblick zu wahren und die Entwicklung in bestimmte Bahnen zu lenken“. Die Behörden seien systematisch im Rückstand und reagierten auf Entwicklungen, welche die Wirtschaft und Gesellschaft längst prägen würden. Deshalb findet der Bundespräsident, dass der Staat vor allem für die bestmöglichen Rahmenbedingungen und die Sicherheit der Bürger zu sorgen habe. Die Innovation, die Ideen für die digitale Zukunft sollten von privaten Akteuren kommen.
Mit seiner Kritik am Rückstand der Behörden und der Politik hat Johann Schneider-Amman bestimmt nicht unrecht. Sie sind es definitiv nicht, welche die digitale Revolution aktuell vorantreiben und gestalten. Zu diesem Schluss kommt auch der Digitalisierungsexperte Joël Luc Cachelin in seiner neusten Publikation „Update!“, die sich damit befasst, wie unsere Gesellschaft fit gemacht werden kann für die digitalisierte Welt. „In den letzten Jahrzehnten haben wir keine Reformen gewagt“, schreibt er. „Unser Bildungs-, Politik-, Steuer- und Sozialversicherungssystem steckt in der Vergangenheit fest. Die Verwaltung, das Militär oder die Religion brauchen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, um sich zu transformieren und den Schritt ins digitale Zeitalter zu bewältigen.“ Cachelin rügt die Politiker: „Die Politik, die eigentlich für die Transformation verantwortlich ist, leidet unter den Eigeninteressen der Parteien, Stellvertreter und Eliten. Weil man weder das Volk beunruhigen noch den eigenen Sessel im Parlament verlieren will, dringt man nicht zum Wesentliche vor.“ Wenn man das Update aber hinausschiebe, drohe das Chaos, warnt Cachelin.
…oder als Investor
Der Gründer der Wissensfabrik, des Think-Tanks für die Digitalisierung, sieht die Rolle des Staates und der Politik trotz Kritik aber weit aktiver als Bundesrat Schneider-Ammann. Er schlägt vor, im Parlament eine dritte, digitale, Kammer zu schaffen, welche online Gesetze diskutiert sowie Budgets erstellt und verabschiedet. Cachelin geht sogar so weit, die Gründung neuer Staatsunternehmen zu empfehlen. Damit könne man die Transformation der Wirtschaft und dadurch Arbeitsplätze fördern. „Der Staat ist ein unverzichtbarer Investor für unsere Zukunft“, ist Cachelin überzeugt. Er verfüge über riesige Budgets und seine Interessen deckten sich mit jenen der Gemeinschaft. Eine erfolgreiche digitale Transformation setzt für den Digitalisierungsexperten deren Verankerung in der politischen Agenda voraus. Er fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag, der unsere Freiheit, Solidarität, Demokratie sowie den Rechtsstaat absichert.
Ihre Meinung bitte!
Wenn Johann Schneider-Ammann die Freiheit vor allem von der Wirtschaft her denkt, hat Joël Luc Cachelin mehr die Bürger und die Erwerbstätigen im Sinn. Beide haben Recht. Aber wie viel Politik es für den erfolgreichen Wandel zur digitalen Welt braucht, darüber lässt sich trefflich streiten. Streiten Sie mit! Teilen Sie uns Ihre Meinung mit zur Frage: Wie viel Politik braucht die Digitalisierung?
Hansjörg Schmid
Die Verwaltung, das Militär oder die Religion brauchen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, um sich zu transformieren und den Schritt ins digitale Zeitalter zu bewältigen.“ Joël Luc Cachelin, Digitalisierungsexperte»
Update!
Das gesellschaftliche Betriebssystem ist veraltet, findet Joël Luc Cachelin, Gründer der Wissensfabrik, eines Think-Tanks für Digitalisierung. In seinem Buch „Update!“ macht er Vorschläge, wie es auf einen digitalen Stand gebracht werden könnte, respektive müsste. Stämpfli Verlag 2016.
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