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ADHS im Erwachsenenalter

„Wie ein Schiff ohne Kapitän“

Bei ADHS denkt man an zappelige Kinder, die in der Schule schlecht aufpassen können. Die Störung wächst sich aber nicht unbedingt aus. Betroffene Erwachsene haben es im Arbeitsleben oft schwer.

„Ich habe ein ziemlich vorschnelles Mundwerk und sage manchmal Dinge, die ich nachher bereue.“ Dies sagt Dominik Petermann (Name geändert), 29, Student der Psychologie und ADHS-Betroffener. Die Aussage mag erstaunen. ADHS heisst ja gemäss Wikipedia „Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung“. Was hat das mit einem losen Mundwerk zu tun?

Längere Zeit ging man davon aus, dass ADHS bei Kindern und Jugendlichen auftritt und sich, wie der Name sagt, in Hyperaktivität und einem Aufmerksamkeitsdefizit ausdrückt. „Doch epidemiologische Studien und Erfahrungen aus der klinischen Praxis haben gezeigt, dass bei ca. 50 Prozent der Betroffenen klinisch relevante Symptome bis ins Erwachsenenalter bleiben“, schreibt auf einem Merkblatt die Organisation „adhs20+“, welche die Interessen ebendieser Menschen vertritt. Wenn man davon ausgeht, dass 3 bis 5 Prozent der Kinder von ADHS betroffen sind, dann hätten immerhin ca. zwei von hundert Erwachsenen ebenfalls Symptome.

Der Psychologe Andreas Braun führt in der psychiatrischen Gemeinschaftspraxis Dr. Karli in Lenzburg ADHS-Abklärungen durch und coacht Betroffene, damit diese die mit der Diagnose verbundenen Probleme bewältigen können. Er ist selber „ein mittelschwerer Fall“ und weiss daher, wovon er spricht. Man unterscheidet drei Typen von ADHS:

  • Der vorwiegend unaufmerksame Typus ist stark ablenkbar, kann sich nicht gut konzentrieren und schweift ab.

  • Beim kombinierten Typus bestehen als Hauptsymptome sowohl Unaufmerksamkeit als auch Überaktivität. Bei Erwachsenen äussert sich das meist als innere Unruhe, Nervosität und Rastlosigkeit. Dies ist die häufigste Form von ADHS.

  • Der hyperaktiv-impulsive Typus ist der Macher, der sich rastlos und getrieben immer zu viele Projekte auflädt und darunter leidet, dass andere Menschen seinem hohen Tempo meist nicht folgen können.

Die Diagnosekriterien sind gemäss adhs20+ „exakt definiert und international anerkannt“. Damit die Diagnose gestellt werden kann, muss mindestens eines der Hauptkriterien – Unaufmerksamkeit und/oder Überkativität – in mittlerer bis starker Ausprägung vorhanden sein. Zusätzlich müssen mindestens zwei weitere so genannte Nebenkriterien erfüllt sein (für die einzelnen Kriterien siehe Kasten). Nebenkriterien wie Temperament oder Impulsitivität können Dominik Petermanns loses Mundwerk erklären.

Mangelnde Steuerfähigkeit

Die Ursachen von ADHS sind laut adhs20+ noch nicht im Detail bekannt. Man geht davon aus, dass die Störung einen hohen genetischen Anteil hat. Hirnchemisch gesehen sind die Neurotransmittersysteme von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin in gewissen Hirnregionen betroffen. „Diese Systeme zeigen eine verminderte Aktivität“, schreibt adhs20+. „Die Informationsverarbeitung läuft deshalb bei Menschen mit ADHS anders ab.“ Dies äussert sich gemäss Psychologe Andreas Braun in einer „mangelnden Fähigkeit, sein Leben zu steuern.“ Es sei, wie wenn auf dem Schiff der Kapitän fehle. Betroffene hätten starke Stimmungsschwankungen und seien besetzt von Gefühlen. Wenn sie Stress hätten, würden sie nicht mehr funktionieren. Dazu komme, dass sie auf der äusseren Ebene stark ablenkbar seien, Wichtiges schlecht von Unwichtigem unterscheiden und nicht gut priorisieren könnten. „Das kann zu einem Leben führen, das sich anfühlt wie eine Achterbahnfahrt.“

Dies führt gemäss Andreas Braun zu einer Reihe von Problemen: „Man reagiert sehr stark auf Schwieriges, man kann durch die Aufmerksamkeitsstörung schlecht sehen, womit Dinge zusammenhängen und reagiert dann unangemessen oder gekränkt auf falsch wahrgenommene bzw. falsch interpretierte Situationen. Dies führt zu ablehnenden Reaktionen aus dem sozialen Umfeld und zur Entwicklung eines schwachen Selbstwerts bei den Betroffenen.“ Für ADHS-Betroffene sei es sehr anstrengend, das Leben zu meistern: „Normale Menschen können ihr Leben irgendwann nach gewissen, immer wiederkehrenden Ordnungsprinzipien organisieren. Mit einem ADHS hat man wie jeden Tag ein neues Leben, was sehr anstrengend und aufreibend sein kann.“

ADHS kann Energie geben

Einer, der es trotz ADHS geschafft hat, ist der zu Beginn zitierte Dominik Petermann. Er ist daran, sein Studium mit einer Arbeit die Auswirkungen von ADHS abzuschliessen. „Ich bin recht entspannt“, sagt er. Natürlich laufe der Motor permanent und er sei aktiv. „Aber ich bin im Reinen damit und kann abstellen.“ Was Petermann am meisten hilft, ist Sport. Das sei für ihn wie eine Selbstmedikation, er schluckt keine Medikamente. Der Student betont einen zweiten wichtigen Faktor, der ihm hilft, mit ADHS gut zu leben. Er hat einen Intelligenztest absolviert und herausgefunden, dass er einen sehr hohen Intelligenzquotienten hat. Das ermöglicht ihm, die „zusätzliche Energie“, die ihm ADHS gibt, produktiv zu nutzen. „Menschen mit tiefer Intelligenz leiden sicher mehr unter dem ADHS“, glaubt er und erwähnt, dass es in Gefängnissen überproportional viele Menschen mit ADHS gebe.

Auf der anderen Seite gibt es sehr erfolgreiche ADHS-Menschen. Andreas Braun nennt den Schwimmer Michael Phelps, den Skirennfahrer Bode Miller, den Sänger Robbie Williams. Man geht davon aus, dass auch Bill Clinton, Albert Einstein und Wolfgang Amadeus Mozart ADHS-Betroffene sind, respektive waren. Denn eines sei eben auch typisch für sie: „Wenn sie etwas gerne machen, dann erbringen sie Höchstleistungen, sie verschreiben sich einer Aufgabe.“ Sie sind nach Andreas Braun auch diejenigen Menschen, die Ideen und Einfälle haben, die sich echt engagieren und die querdenken können.

Es kommt also ganz auf die Aufgabe an, ob sich ein ADHS-Betroffener fokussieren und in die Arbeit stürzen kann. Der amerikanische Psychologe Thomas E. Brown führte in einem Interview mit der NZZ am Sonntag dazu ein anschauliches Beispiel eines seiner Patienten an: „Es [ADHS] ist wie eine erektile Dysfunktion des Gehirns. Wenn du vor einer Aufgabe stehst, die dich antörnt, kriegst du ihn hoch und kannst den Akt vollziehen. Ist die Aufgabe hingegen intrinsisch uninteressant, kriegst du ihn nicht hoch und kannst die Leistung nicht erbringen. In dieser Situation hilft es auch nicht, wenn du dir sagst, du solltest es unbedingt tun. Es ist die allergrösste Barriere, die es zu überwinden gilt, weil es für alle Welt aussieht, als fehle es einfach an Willen.“

Die Stärken fördern

Logisch, sind für ADHS-Betroffene gewisse Tätigkeiten im Berufsleben denkbar ungeeignet. Dominik Petermann nennt als Beispiel Routinetätigkeiten: „Wenn ich solche Arbeiten ausführen muss, erbringe ich vielleicht eine Leistung, die unter der eines Primarschülers liegt", sagt er etwas übertrieben. Er könne sich dabei fast nicht konzentrieren. Das Wichtigste für ihn bei der Arbeit ist Autonomie. Darum möchte er später gerne selbständig sein.

Der Psychologe Andreas Braun bestätigt Petermanns Aussage. ADHS-Betroffene bräuchten eine Arbeit, die ihnen Spass mache, bei der sie Gestaltungsspielraum hätten. Sie seien auf eine ruhige Arbeitsumgebung mit wenigen Ablenkungen angewiesen, Grossraumbüros seien aufgrund der Ablenkungen eher ungeeignet für sie.

So wie sich unsere Welt entwickelt – immer hektischer, immer mehr Reize, immer mehr gleichzeitig – wird sie für ADHS-Betroffene zu einer immer grösseren Herausforderung. Andreas Braun glaubt denn auch, dass ADHS in Zukunft noch häufiger diagnostiziert werden wird. „Die Überforderung wird zunehmen. An den Schulen hat man früher die harten 2 Prozent diagnostiziert, heute viel mehr. Das hat auch damit zu tun, dass man viel weniger Abweichung toleriert.“

ADHS ist nicht heilbar, aber die Störung kann behandelt werden. Medikamente helfen, sich besser zu konzentrieren. „Sie geben die notwendige innere Stille, um destruktive Reaktionsmuster zu erkennen und zu durchbrechen“, erklärt Andreas Braun. „Man kann sich sammeln, auf etwas ausrichten und seine Gefühle erkennen.“ Medikamente allein reichten jedoch nicht. Für dauerhafte Veränderungen sei ein begleitendes Coaching unbedingt notwendig. Dort könne man lernen, mit ADHS umzugehen und dessen Vorteile zu nützen. Ganz so, wie es Dominik Petermann macht. Er sieht ADHS nicht als Krankheit, sondern als eine bestimmte Ausprägung der Persönlichkeit. Der Student plädiert darum dafür, nicht immer nur die negativen Aspekte zu betrachten. „Der Fokus sollte vielmehr auf die Stärken gelegt werden.“

Hansjörg Schmid

Mittwoch, 28. Sep 2016

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«Mit einem ADHS hat man wie jeden Tag ein neues Leben, was sehr anstrengend und aufreibend sein kann.»
Andreas Braun, Psychologe und ADHS-Experte
«Man soll bei ADHS nicht immer nur die negativen Aspekte betrachten, der Fokus soll auf die Stärken gelegt werden.»
Dominik Petermann (Name geändert), Student und ADHS-Betroffener

Die Diagnosekriterien von ADHS

Um eine Diagnose zu stellen, muss mindestens ein Hauptkriterium erfüllt sein: eine Aufmerksamkeitsstörung oder eine Hyperaktivität. Häufig sind beide erfüllt, eines ist aber dominant.

Zu den Hauptkriterien gibt es Nebenkriterien, davon müssen zwei erfüllt sein. Das erste Nebenkriterium ist ein heisses Temperament. Das heisst, ein schnelles Ansprechen auf alltägliche Misslichkeiten. Dies ist z.B. der Fall, wenn sich jemand aufregt über ein Lichtsignal, das rot wird. Man ärgert sich stärker und sagt schneller Dinge, die einem leidtun. Es kann sogar bis zu körperlichen Auseinandersetzungen gehen. Das zweite Nebenkriterium ist die Affektlabilität. Betroffene haben starke Stimmungsschwankungen. Das kann von enthusiastisch bis völlig teilnahmslos gehen. Ein drittes Nebenkriterium ist Stressintoleranz. Das gilt vor allem für Stress, der von aussen kommt. Dieser kann Blockaden auslösen. Das nächste Nebenkriterium ist die Desorganisation, also eine Unfähigkeit, mit Zeitressourcen umzugehen, den Tag und die Arbeit zu planen. Vergesslichkeit gehört ebenfalls dazu. Das letzte Nebenkriterium ist die Impulsivität. Man handelt ungeplant, aus dem Bauch heraus und teilweise selbstschädigend. Man schmeisst z.B. das Geld zum Fenster hinaus oder missbraucht Substanzen.

 

Auswirkungen von ADHS bei Erwachsenen und Folgekrankheiten

Die Beratungsstelle adhs20+ führt für Erwachsene mit ADHS folgende Auswirkungen auf:

Störung der Aufmerksamkeit und Konzentration:

  • Ablenkbar

  • Vergesslich

  • Mangelnde gezielte Aufmerksamkeit

  • Ungenügende serielle Merkfähigkeit und Routinefähigkeit

Impulsivität:

  • Mangelnde kognitive und emotionale Selbstkontrolle, Neigung zu Überreaktion

  • Geringe Frustrationstoleranz

  • Stimmungsschwankungen

  • Neigung zu Risiko- und Suchtverhalten

Überaktivität:

  • Ruhelosigkeit

  • Motorische Unruhe (zappelig)

Unteraktivität:

  • Verträumt, verlangsamt, antriebslos

Schwierigkeiten im Sozialverhalten und im Alltag

  • Probleme mit der Selbstorganisation und der Handlungsplanung

  • Erschwertes Einfügen und Anpassen

  • Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen

Die Symptome können individuell unterschiedlich stark ausgeprägt sein oder teilweise fehlen.

ADHS kann Begleit- oder Folgekrankheiten auslösen. „Die Betroffenen haben aufgrund unzähliger traumatischer Erlebnisse typischerweise ein schlechtes Selbstwertgefühl“, sieht adhs20+ als Grund dafür. Ihr Verhalten stosse oft auf Unverständnis und Kritik, Erfolgserlebnisse blieben aus, stattdessen würden sie Ausgrenzung und Scheitern erfahren. Dies kann zu folgenden Störungen führen:

  • Persönlichkeitsstörungen (bis 60%)

  • Angststörungen (bis 25%)

  • Depressionen (bis 35%)

  • Schlafstörungen (häufig)

Veranstaltungshinweis

Die Beratungsstelle adhs20+ führt am 1. November 2016 die Veranstaltungen „ADHS bewegt und fordert heraus“ durch. Inputreferat von Sandra Ammann, Präsidentin adhs20+, Podium mit lic. phil. Andreas Braun, Psychologe und Vizepräsident adhs20+ (siehe auch Haupttext), Miladin Matic, Soziokultureller Animator, Julia Egli, Miss Schweiz Finalistin und Architekturstudentin und Miguel Camero, Human Beatbox Entertainer und Musiker. Moderation: Dr. phil. Claude Chemelli, Philosoph und Berater. Zentrum Karl der Grosse, Kirchgasse 14, Zürich.