Psychose
Wenn du plötzlich Stimmen hörst oder verfolgt wirst
Jede*r Fünfzigste bis Hundertste leidet einmal an einer Psychose. Die Symptome sind vielfältig, aber immer sehr unangenehm. Erfahre im Artikel, wie Psychosen erlebt werden, was sie auslösen kann, wie sie behandelt werden und wie du Betroffene unterstützen kannst.

Marion steht unter der Dusche und seift sich ein. Das Wasser prasselt aus dem Duschkopf. Plötzlich geht die Badezimmertür auf und eine schattenhafte Gestalt tritt ein. Marion bemerkt sie nicht. Die Gestalt nähert sich Marion. Unvermittelt wird der Duschvorhang aufgerissen und jemand steht mit erhobenem Messer vor Marion. Unerbittlich sticht das Messer immer wieder auf ihren Körper ein. Dies ist die Schlüsselszene eines der berühmtesten Filme: «Psycho». Alfred Hitchcock erzählt in diesem Thriller von 1960 die Geschichte von Norman Bates, der aufgrund seiner «gespaltenen Persönlichkeit» brutale Morde begeht.
Nun sind ein meisterhaft inszenierter Kriminalfilm und das reale Leben zwei gänzlich unterschiedliche Dinge. Leider beeinflussen solche Unterhaltungsfilme unsere Wahrnehmung von psychischen Störungen und wir haben oft ein falsches Bild davon. Das Phänomen der «gespaltenen Persönlichkeit» gibt es zwar tatsächlich. Das Krankheitsbild wird als dissoziative Identitätsstörung bezeichnet und ist dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene Persönlichkeitszustände (dissoziative Identitäten) abwechselnd die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen übernehmen. Diese Identitäten verfügen über eigene Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Wahrnehmungs- und Denkmuster. Nur ist es gar nicht so, dass betroffene Menschen typischerweise zu Mördern werden.
Bezug zur Realität geht verloren
In diesem Artikel geht es aber nicht um die dissoziative Störung, sondern um eine andere Störung, die häufig damit verwechselt wird: die Psychose. Psychosen sind meist vorübergehende Zustände, in denen betroffene Menschen teilweise oder ganz den Bezug zur Realität verlieren. Wahnvorstellungen, desorganisiertes Denken, grob desorganisiertes Verhalten und Halluzinationen sind typische Anzeigen für eine Psychose.
Was geht dich das an? Rund 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung leiden mindestens einmal im Leben an einer psychotischen Störung. Es ist also recht wahrscheinlich, dass es jemanden aus deinem Umfeld oder sogar dich selbst treffen kann. Und zwar auch, wenn du grundsätzlich gesund bist und noch nie an einer psychischen Erkrankung gelitten hast.
Psychosen treten am häufigsten in der Zeit des Erwachsenwerdens und im jungen Erwachsenenalter auf. Männer erkranken häufiger als Frauen. Psychosen können Bestandteil anderer Störungen sein wie Depression oder insbesondere Schizophrenie. Sie können auch durch Suchtmittel verursacht werden oder Stresssituationen. Ansonsten tappt man bei den Risikofaktoren für eine Psychose noch ziemlich im Dunkeln. Bei einer Schizophrenie ist das Risiko erhöht, wenn enge Verwandte daran erkrankt sind. Auch Migration oder Drogenkonsum können einen Einfluss haben.
Ein Drittel der Betroffenen erlebt eine einzige psychotische Episode. Bei einem weiteren Drittel kommt es zu wiederkehrenden Episoden bei voller oder teilweiser Erholung dazwischen. Ein letztes Drittel von betroffenen Menschen schliesslich zeigt einen chronischen Verlauf auf.
Vielfältige Symptome
Psychosen lösen bei den Betroffenen Veränderungen auf drei Ebenen aus:
- Gefühlswelt und Antrieb: Niedergeschlagenheit, Ängste, Misstrauen, Gefühlsleere, übersteigerte Gefühle, weniger oder mehr Energie und Antrieb.
- Denken und Wahrnehmung: Konzentration und Aufmerksamkeit, Ich-Gefühl, Wahrnehmung der Umwelt, unerwartete Ideen; aber auch Veränderungen bei den Sinnen Geruch, Gehör und Sehen (Farbwahrnehmung).
- Verhalten: Schlafstörungen, soziale Isolation, Rückzug, eingeschränktes Interesse an beruflichen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen.
Diese Symptome können dramatisch oder auch wenig dramatisch sein und sind schwierig einzuordnen. Dennoch sollen sie nicht ignoriert werden, denn Psychosen beginnen in der Regel schleichend. Je früher sie behandelt werden, desto besser! Aber wie kann ich trotz nicht so ausgeprägten und eindeutigen Anzeichen erkennen, ob sich bei meiner Freundin oder meinem Arbeitskollegen eine Psychose anschleicht? Die besten Hinweise gibt dir das Verhalten der Person. Zieht sie sich zurück, vernachlässigt sie ihr Äusseres, engagiert sie sich weniger an der Arbeit, verliert sie das Interesse an ihren Hobbys, dann könnte eine Psychose die Ursache sein – oder allenfalls auch eine Depression. Wichtig ist in jedem Fall, dass du reagierst. Nichts tun ist immer die schlechteste Option.
Hilfe leisten
Leider fällt es uns Menschen sehr schwer, andere Menschen auf ein psychisches Leiden anzusprechen. Es scheint uns tabu oder peinlich, wir glauben, damit überfordert zu sein oder wir haben Angst, dass der oder die Betroffene unwirsch reagiert. Es ist in der Tat nicht ganz einfach, mit einem betroffenen Menschen über eine Psychose zu reden wie über ein gebrochenes Bein. Aber wie wir das gebrochene Bein nicht selbst heilen müssen, müssen wir auch die Psychose nicht selbst therapieren, sondern nur erste Hilfe anbieten. Betroffene sind oft heilfroh, wenn sie jemand auf ihr Problem anspricht und Hilfe anbietet, weil auch sie sich nicht trauen, jemandem zu sagen, dass es ihnen psychisch nicht gut geht.
Wenn du jemanden auf eine mögliche Psychose ansprichst, dann sind einige Dinge wichtig für dich zu wissen. Die Welt, wie sie die betroffene Person sieht, ist für sie real, auch wenn es für dich nicht nachvollziehbar ist. Du musst das ernst nehmen und es ist nicht deine Aufgabe, die Person davon zu überzeugen, dass sie die Welt falsch sieht. Du musst Interesse zeigen, zuhören und professionelle Hilfe vermitteln. Solche bieten diverse Fachstellen an (siehe Kasten). Lass dich nicht entmutigen, wenn die angesprochene Person deine Hilfe zuerst einmal ablehnt. Gib ihr Zeit und bleib dran. Ist eine betroffene Person gerade in einer schweren psychotischen Episode (sieh dazu unten) und zeigt Anzeichen aggressiven Verhaltens, dann halte Abstand. Berühre die Person unter keinen Umständen! Wenn du nicht an die Person rankommst, ruf die Notrufnummer 144 an. Sie kann dir weiterhelfen.
Im Artikel «ensa – erste Hilfe für psychische Gesundheit» im Apunto 4/2021 (Seite 12) erfährst du mehr darüber, wie man Menschen auf psychische Probleme ansprechen kann. Es ist ein Bericht über einen sehr empfehlenswerten Kurs von Pro Mente Sana zu diesem Thema.
Behandlung mittels Therapie und Medikamenten
Psychosen können therapeutisch und mit Medikamenten behandelt werden. Zum Beispiel mit einer kognitiven Verhaltenstherapie, mit Antipsychotika oder anderen Psychopharmaka. Bei einigen Betroffenen tritt bald eine Besserung ein, während andere über einen längeren Zeitraum behandelt werden müssen. Um von einer ersten Episode zu genesen, sind in der Regel mehrere Monate erforderlich. Bei gewissen Menschen kann die Leidenszeit auch Jahre dauern. Die meisten Menschen gesunden jedoch von Psychosen und können danach ein erfülltes Leben führen.
Schwieriger ist es, wenn eine Schizophrenie mit im Spiel ist. Galt diese Krankheit früher als nicht heilbar, ermöglichen aber moderne Therapien unter Umständen auch hier die Rückkehr in ein sinnerfülltes Leben.
Bei der medikamentösen Behandlung ist auf eine optimale Auswahl und Dosierung zu achten. Dies auch deshalb, weil sie starke Nebenwirkungen haben können. Um Rückfälle zu vermeiden, sollten die Medikamente aber nicht ohne Rücksprache mit der Ärztin oder dem Arzt abgesetzt werden.
Nicht zu vergessen ist, dass auch Angehörige von Betroffenen Hilfe und Unterstützung brauchen.
Psychosen können zu Krisen führen
Menschen, die gerade eine schwere psychotische Episode erleben, geht es sichtbar sehr schlecht und sie sind in grosser Not. Sie leiden unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen, denken unzusammenhängend und verhalten sich merkwürdig bis verstörend. In einer solchen psychotischen Episode können sie unbeabsichtigt sich selbst oder anderen Schaden zufügen. Glauben sie zum Beispiel, eine besondere Macht zu besitzen, überfahren sie Rotlichter oder sie fliehen zu Fuss vor einer Halluzination durch den dichten Verkehr.
Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden in den Medien oft völlig undifferenziert und pauschalisierend als unberechenbar, gewalttätig oder gefährlich dargestellt. Gerade Menschen mit einer Psychose können tatsächlich gewalttätig werden. Allerdings betrifft dies nur einen sehr kleinen Teil der Betroffenen. Gewalthandlungen hängen zudem eher mit Alkohol- oder Drogenkonsum zusammen.
Kaltblütige Morde wie Norman Bates verüben Menschen, die von einer Psychose betroffen sind, mit allergrösster Wahrscheinlichkeit keine. Viel grösser ist die Gefahr, dass sie sich selbst etwas antun. 30 Prozent der Menschen, die an Schizophrenie leiden, unternehmen mindestens einmal im Leben einen Suizidversuch, rund 10 Prozent sterben durch Suizid. Umso wichtiger ist es darum, dass den Betroffenen geholfen wird. Angestellte Schweiz leistet einen Beitrag dazu mit der Gesundheitsapp «Etwas tun?!» (siehe Kasten). Kümmere auch du dich um deine Mitmenschen mit psychischen Belastungen!
Hansjörg Schmid
«EtwasTun?!» – die App zum Erhalt der psychischen Gesundheit
Neue Arbeitsformen, zunehmender Druck am Arbeitsplatz, Fachkräftemangel, Pandemie – wir stehen dauernd vor Herausforderungen, die sich auch auf unsere Psyche auswirken. Wie grenze ich mich ab, wenn mir jemand von seinen Problemen erzählt? Wie kann ich mit Kränkungen im Arbeitsalltag positiver umgehen? Wie wichtig sind Pausen im Home-Office? Wie gestalte ich meine Erholung besser? Diesen und vielen anderen Fragen rund um die psychische Gesundheit geht die neue Gesundheits-App „EtwasTun?!“ nach. Sie bietet fundierte Lösungsvorschläge und Fachwissen – damit wir auch in der neuen Arbeitswelt fit bleiben.
Die Web-App hilft Berufstätigen in der Schweiz, ihre Kompetenzen im Umgang mit psychisch herausfordernden Situationen am Arbeitsplatz zu stärken. Das Tool bietet eine individuelle Lernumgebung und verbessert den Umgang mit psychischen Herausforderungen durch gezielte Sensibilisierung und Lernerfolge. «EtwasTun?!» ist als präventives Angebot gedacht, um Nutzer*innen abzuholen, bevor sich psychische Belastungen verschärfen und Therapien notwendig werden. Die App ist von jedem Desktop oder Smartphone aus zugänglich.
Anlaufstellen bei psychischen Belastungen
Wenn es dir psychisch nicht gut geht, zögere nie, Hilfe zu holen! Psychische Leiden können gut behandelt werden. Wir empfehlen dir, eine der folgenden Anlaufstellen zu kontaktieren.
>> Etwas tun für die psychische Gesundheit lohnt sich!
>> Psychischen Erkrankungen vorbeugen
>> Warum Suchtmittel rasch zum Problem werden können
>> Einsamkeit – die Epidemie unserer Zeit?
>> Niemand ist vor Angst gefeit
>> Suizid: Es ist Zeit, das Tabu zu Fall zu bringen
>> Wenn der Körper nicht mehr kann
Videos zum Thema Psychose: