Massive Open Online Courses
„Videos schauen und Unterricht ist nicht identisch“
Susan Göldi wirft einen nüchternen Blick auf die Massive Open Online Courses (MOOCs). Die Dozentin und Kursleiterin an der Fachhochschule Nordwestschweiz schätzt diese als wertvolle Ergänzung des klassischen Hochschulunterrichts. Wunder darf man sich aber keine erhoffen.

Susan Göldi, sie haben sich mit MOOCs auseinandergesetzt. Was halten Sie von ihnen?
Ich finde grundsätzlich, jede neue Lernunterstützung ist ein Gewinn.
Was verstehen Sie unter einem MOOC?
Ein MOOC besteht aus mehreren Sequenzen der Wissensvermittlung und ist für alle offen. Wissen wird durch Videos (mit Sprecher*in, Grafiken, Skizzen, Power Point-Folien etc.) vermittelt. Die Videos sind meist kurz – 5 bis 15 Minuten. Sequenzen werden oft durch Wissensfragen, häufig in spielerischer Form als Quiz, abgeschlossen. MOOCs erstrecken sich meist über sechs bis acht Sequenzen und beinhalten damit alles in allem eine Präsentation von etwa einer bis zwei Lektionen. Ein MOOC ist demnach – verglichen mit einem Offline-Kurs – kurz, sehr stark segmentiert und stereotyp gestaltet.
Welche Arten von MOOCs unterscheidet man?
Neben den „einfachen“ MOOCs, den xMOOCs, gibt es die cMOOCs. Sieenthalten zusätzlich interaktive Elemente, wie Foren oder Peer-Aktivitäten, und wollen mehr Seminar als Vorlesung sein. Am meisten Lerneffekte, dies zeigt die MOOC-Forschung, bringen bMOOCs, was für blended MOOC steht. Es handelt sich dabei um MOOCs, die mit Präsenzveranstaltungen verwoben sind, also um Hybriden. Das „M“ und „O“ scheinen hier jedoch irreführend, denn ein hochschulinternes Angebot kann nicht massiv – für tausende von Teilnehmenden – und open – ohne Eintrittsbedingungen, ohne Kosten, zieloffen – sein. Trotzdem: bMOOCs können einen internen mit einem externen Kreis verbinden und dadurch höchst attraktiv werden, insbesondere wenn damit Internationalisierungs-, Promotions- und Digitalisierungseffekte erzielt werden wollen.
Viele MOOCs werden über einschlägige Plattformen angeboten. Wie muss man sich diese Kurse typischerweise vorstellen?
Die beiden grössten Plattformen Coursera und edx bieten einen Mix aus xMOOC und cMOOC mit kurzen Video-Sequenzen (um die 10 Minuten), Tests und teils interaktiven Angeboten. Sechs bis acht Lernelemente ergeben einen Kurs – total also um die 70 Minuten Stoffpräsentation. Udacity praktiziert ebenfalls einen Mix. Dabei werden nicht Vorlesungen oder Power-Point-Präsentationen gezeigt, sondern es wird während zwei bis drei Minuten modelliert – mittels der Methode des Laut-Denkens, Entwickelns an Tafel oder auf Papier. Dann werden die Teilnehmenden mit einem Quiz aktiviert. Es folgt die Musterlösung und dann geht es weiter im Programm.
Wie entstanden überhaupt die MOOCs?
Alle diese Ansätze wurzeln im Konzept des programmierten Lernens und damit in den Lerntheorien des Behaviorismus und des frühen Kognitivismus. Es handelt sich um Lerntheorien, die um 1900 beziehungsweise nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt wurden und die heute noch relevant sind, aber gewiss nicht mehr vorherrschend. In den 1980er-Jahren hat sich ein grundlegender Paradigmenwechsel in der Auffassung von Lernen hin zum Konstruktivismus und seit 2000 zum sozialen Konstruktivismus vollzogen. Insbesondere wenn es um höhere Bildung und um kognitive Lernziele geht, liefern konstruktivistische Ansätze bessere Modelle, um Lernen zu gestalten. cMOOCs passen besser in die Moderne als xMOOCs, die allenfalls auf einer tiefen Kognitionsstufe Lerneffekte erzielen.
Für wen sind MOOCs geeignet, für wen nicht?
Studierende einer Schweizer Hochschule finden es verständlicherweise attraktiv, sich mit Interessierten aus der ganzen Welt auszutauschen. Das gilt insbesondere für Masterstudiengänge mit hochmotivierten und reifen Studierenden, die neben Wissen auch Kontakte und Erfahrungen mit anderen Kulturkreisen sammeln wollen und dafür auch bereit sind, sich zu engagieren und zu exponieren. Gerade das Exponieren ist an Schweizer Hochschulen ein Problem in Bezug auf interaktive digitale Lernformate. Die Erfahrung zeigt: Schweizer Studierende sind lieber passiv, als Gefahr zu laufen, kritisiert zu werden oder in einen harten Diskurs zu treten. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass die Schweizer Studierenden von Formaten mit internationalen Studierenden insbesondere aus dem angelsächsischen Raum profitieren.
Für was sind sie geeignet, für was nicht?
Ein MOOC eignet sich vor allem für die Wissensvermittlung, insbesondere zum Vermitteln unbestrittener Fakten, Regeln oder Routinen. Es ist fraglich, ob mittels MOOC hochkomplexes Wissen, vertieftes Verständnis sowie analytische oder synthetische Kompetenzen vermittelt werden können. Viele Hochschulthemen sind deshalb grundsätzlich kaum xMOOC- und wohl auch nur sehr beschränkt cMOOC-tauglich.
Besuchen Sie selber solche Kurse?
Ich habe mich auch schon zu MOOCs angemeldet und angefangen… Mit der Disziplin war es dann aber leider nicht weit her. Ich bedaure, dass ich nur wenig Zeit und Musse für das freie, nicht berufsbezogene Lernen habe. Es gibt eine riesige Auswahl von MOOCs und darunter sicher manche Perle. Ich stelle mir vor, dank MOOCs nicht nur inhaltlich profitieren zu können, sondern auch didaktische Inspiration zu erhalten. Und es ist auch eine Möglichkeit, Menschen – Dozierende, Lernbegleitende, Studierende – kennen zu lernen, die über den ganzen Globus verteilt sind, aber ein gemeinsames Interesse teilen. Das sind alles wunderbare Chancen.
Sie haben Ihre MOOCs nicht zu Ende gebracht. Da stehen Sie wohl nicht allein…
Daten aus der bereits reichlich vorhandenen MOOC-Begleitforschung zeigen: Die Interaktion unter Teilnehmenden ist sehr begrenzt, die meisten machen nicht aktiv mit. Die überwiegende Anzahl, meist weit über 90%, nimmt am Kurs überhaupt nicht oder nur konsumierend teil. Letztere schauen sich lediglich die Video-Sequenzen an, lösen keine Tests oder Übungen und weisen keine kontrollierbaren Lernaktivitäten auf. Die geringe Aktivität erklärt auch die geringe Abschlussquote, die teils unter 4% und selten über 12% liegt. Das ist kein Wunder, denn Videos Schauen und Studieren ist nicht identisch. Es gibt aber auch kleine Grüppchen, die (teils sehr) aktiv sind und damit auch profitieren. Der Gewinn für die Abwesenden und Inaktiven ist aber mehr als fraglich, da Lernen immer mit Aktivität verknüpft ist. Trotzdem: cMOOCs können funktionieren und Lerneffekte erzielen.
Als grosser Vorteil der MOOCs gilt, dass sie weitgehend kostenlos sind. Stimmt das?
Eine Verbindung aus Wissenschaftsstiftung und deutscher MOOC-Plattform (iversity) hat in einem Wettbewerb Gelder für MOOCs vergeben: 25 000 Euro pro MOOC. Meine eigenen Recherchen zu den Kosten zeigen, dass man in verschiedener Hinsicht relativieren muss. Je nachdem, was alles dazu gerechnet wird – Kosten für Dozierende, wissenschaftliche Mitarbeitende, technischen, didaktischen, medialen Support, Infrastruktur, Plattform) kostet ein MOOC zwischen ein paar Tausend und ein paar Zehntausend Franken. Ein MOOC ist jedenfalls nicht gratis. Die Plattformen stecken alle noch in der Venture-Kapital-Phase. Niemand verdient bis jetzt Geld mit MOOCs. Das dürfte sich aber ändern.
Aber die Teilnahme ist doch trotzdem mehr oder weniger gratis.
Bereits jetzt werden Gebühren für Zertifikate, die Teilnahme an Übungen oder Foren, für Materialien etc. erhoben. Ebenfalls besteht der berechtigte Verdacht, dass die Daten von Studierenden bewirtschaftet werden. So wurde in Bezug auf die Plattform Coursera berichtet, dass sie Daten über Studierende an Firmen verkaufte, damit diese gezielt rekrutieren können.
Wie weit machen die MOOCs dem klassischen Unterricht Konkurrenz?
MOOCs sehe ich nicht als Konkurrenz, sondern im besten Fall als Bereicherung, Unterstützung und Zusatzangebot. Sie bieten zum Beispiel Chancen beim „flipped classroom“. Dabei handelt es sich um ein didaktisches Konzept, bei dem sich Studierende Wissen vor dem Präsenzunterricht im Selbststudium aneignen, um dort dann bereit für Reflexion, Diskussion und den sozialen Diskurs zu sein. Ein moderner Unterricht muss sich ständig entwickeln und darf sich neuen Medien nicht verschliessen. Gleichzeitig zeigt sich aber beim Experimentieren und Testen von neuen Ideen immer wieder, dass beim Lehren und Lernen nichts an der harten Arbeit für alle Beteiligten vorbeiführt. Dozierende müssen Stoff didaktisieren. Das ist per se eine Herausforderung, unabhängig davon, ob die Vermittlung online, offline oder im Mix erfolgt. Und Studierende müssen Wesentliches erkennen, Information verarbeiten und Erfahrungen sammeln. Das fällt ihnen bis heute immer noch am leichtesten im traditionellen Klassenverband.
Die Uni Lausanne hat dank MMOCs über zwei Millionen Studenten. Ist einer solchen Zahl zu trauen?
Hat sie wegen den MOOCs wirklich über zwei Millionen Studierende? Im MOOC-Geschäft gibt es – wie überall – Schein und Sein. Es gibt MOOCs, die sehr massiv erscheinen, weil sie hunderttausende von Teilnehmenden haben sollen. Allem Anschein nach werden die Kursteilnehmenden bei jeder Runde, in der ein Kurs läuft, addiert. Ebenfalls wird bei der Zahl der Teilnehmenden suggeriert, dass die Teilnehmenden auch tatsächlich etwas tun. Die allermeisten schreiben sich aber, wie gesagt, nur ein, sind aber völlig inaktiv. Die beeindruckenden Zahlen sind weniger seriöse Information als vielmehr Kurs- und Plattformvermarktung. Klar gibt es auch Kurse, die sehr populär sind und auf ein riesiges Interesse stossen. Dazu gehören insbesondere Kurse von sehr renommierten Hochschulen wie Harvard und MIT, die sich auf hoher Flughöhe mit aktuellen Themen befassen und zum Beispiel einen Überblick über ein Themengebiet geben oder Grundlagenfähigkeiten wie Programmieren, Kreativitätstechnik oder Argumentationstechnik vermitteln.
Wie weit empfehlen Sie Ihren Student*innen MOOCs?
Ich empfehle keine MOOCs. MOOCs können im Selbststudium eine Rolle spielen – das Selbststudium aber soll an der Hochschule selbstgesteuert sein und bleiben. MOOCs haben nicht denselben Stellenwert wie Lehrmittel. Ein Buch oder Buchkapitel selbständig durchzuarbeiten ist und bleibt eine klassische Studienleistung.
Sind MOOCs auch ein Thema für Ihr Institut?
Die Dozierenden am Institut für Competitiveness und Communication an der Hochschule für Wirtschaft arbeiten mit „blended learning“, „flipped classroom“ und multimodalen Inhalten – um nur einige Stichworte zu nennen.
Wo sehen Sie die Zukunft von MOOCs?
Ein Grund, warum MOOCs wahrscheinlich eine Zukunft haben, sind deren Promotionseffekte, um neue Studierende, Partner, Mitarbeitende für internationale Programme, Produkte und Initiativen zu gewinnen. Je massiver und offener ein MOOC ist, desto besser erreicht man weltweit Menschen, die sich ein Bild der Hochschule machen möchten. Dieses Bild kann die Entscheidung, an der Hochschule zu studieren oder mit ihr zu kooperieren, unterstützen.
Interview: Hansjörg Schmid

Professor Dr. Susan Göldi ist an der Fachhochschule Nordwestschweiz Dozentin für Kommunikation. Sie ist Leiterin des MAS Bildungsmanagement und Erwachsenenbildung sowie des Zentrum Schreiben.
Hier können Sie „moocen“
Wenn Sie Kurse in bewährter Schweizer Qualität suchen, dann können Sie dies unter anderem an folgenden Hochschulen tun:
Schweizer Anbieter:
Ecole Polytechnique Fédéral de Lausanne (ETH Lausanne)
Fachhochschule Nordwestschweiz
Vielleicht wollen Sie ja gleich an eine amerikanische Spitzenuni. Dann werden Sie hier fündig:
Massachusetts Institute of Technology
Oder es zieht Sie nach England:
Oder Sie möchten Ihr Cambridge-English aufmöbeln?
Auf den folgenden Plattformen finden Sie eine Fülle von MMOC-Angeboten: