Suizid: Es ist Zeit, das Tabu zu Fall zu bringen
Immer mehr Menschen denken in der Schweiz daran, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Viele Suizide wären aber vermeidbar – wenn man offen darüber sprechen und verstärkt in die Prävention investieren würde.

Alexander Maier, Finanzchef in einem Automobilzulieferunternehmen, ordnet sein ganzes Leben der Arbeit unter. Als Perfektionist will er höchste Ziele erreichen. Bis er mit dem neuen CEO Hans-Werner Brockmann aneinander gerät. Der schiebt ihm die Schuld für einen geplatzten Deal mit einem Grossinvestor in die Schuhe. Maier sieht nur noch einen Ausweg, der Situation ein Ende zu setzen und sich so an Brockmann zu rächen…
Dies ist die Handlung eines Films, «Jagdzeit» von Sabine Boss. Sie könnte sich aber sehr wohl im richtigen Leben abgespielt haben, der Film ist nämlich inspiriert von wahren Begebenheiten. Er greift ein Thema auf, das in unserer Gesellschaft immer noch ein grosses Tabu ist: Suizid.
Zunahme der Suizidgedanken und hohe Zahl an Suizidversuchen
2018 verloren 280 Menschen wegen eines Verkehrsunfalls (Strasse, Eisenbahn, Luftverkehr) ihr Leben. 2016 rund 1000 wegen Suizid (exklusiv Sterbehilfe). Diese Zahlen zeigen eindrücklich: Die Prävention greift im Verkehr glücklicherweise recht gut, in Bezug auf den Suizid besteht aber noch grosser Handlungsbedarf.
Ein Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums von 2019 (Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung) zeigt eine besorgniserregende Entwicklung auf. Rund 7,8% der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren gaben 2017 an, mindestens einmal im Verlauf der letzten zwei Wochen vor der Befragung Suizidgedanken gehabt zu haben. Das sind 7796 Betroffene pro 100 000 Einwohner. 2012 waren es noch 6,4%. Es kann vermutet werden, dass die Rate sogar noch höher liegt, weil es gewisse Befragte Tabu finden, zuzugeben, dass sie Suizidgedanken hegen.
Zwischen Frauen und Männern sowie den Altersklassen gibt es keine grossen Unterschiede. Hingegen denken Menschen in Städten, mit wenig Bildung und mit Migrationshintergrund öfter an Selbstmord. Suizidgedanken stehen oftmals in Zusammenhang mit einer Depression (über 50%). Aber auch andere mentale oder körperliche Leiden können den Suizid begünstigen. Ein sehr wichtiger Faktor ist die Selbstbestimmung: Fast 70% der Personen mit Suizidgedanken haben das Gefühl, ihr Leben nicht selbst bestimmen zu können.
0,5% der Befragten berichteten 2017, innerhalb der letzten 12 Monate versucht zu haben, sich das Leben zu nehmen. Das entspricht rund 33 000 Suizidversuchen in der Schweiz. Bezieht man auch Suizidversuche mit ein, die mehr als 12 Monate zurückliegen, schnellt die Zahl auf 3,4% und deutlich über 200 000 Personen hoch.
Suizidprävention mindestens so wichtig wie Unfallprävention
Alle diese Zahlen entsprechen den Werten vergleichbarer Industrieländer. Dies darf für die Schweiz aber kein Grund sein, zurückzulehnen. Über das Thema Suizid muss dringend mehr und offener gesprochen werden, das Tabu muss fallen, Suizide müssen verhindert werden.
Wie kann es gelingen? Was beim Verkehr funktioniert, soll auch beim Suizid Erfolg bringen – das ist die Vision von Roger Staub, Projektleiter ensa-Kurse und Modul Suizid bei Pro Mente Sana. «Fast alle haben Nothelferkurse absolviert und wissen, was bei einem Unfall zu tun ist», sagt er und stellt fest: «Psychische Krisen und Probleme sind viel häufiger als Unfälle. Nur ist kaum jemand dafür ausgebildet.» Diesem Umstand will Pro Mente Sana, eine Stiftung, die im Interesse psychisch beeinträchtigter Menschen tätig ist, mit Kursen Abhilfe verschaffen (siehe Kasten). «Ideal wäre, wenn jede fünfte Person eine diesbezügliche Ersthelferausbildung hätte», findet Roger Staub.
Der Weg ist noch lang. Der Bund und einzelne Kantone führen eine Kampagne und neben Pro Mente Sana bieten Organisationen wie Pro Juventute oder die Dargebotene Hand Hilfe an. Die Mittel sind jedoch beschränkt. «Die Situation bezüglich Prävention ist in der Schweiz schlecht, weil die Versicherer dafür nicht zuständig sind», weiss Roger Staub. Psychische Probleme sind eben Krankheiten und keine Unfälle. Dort ist die Finanzierung anders geregelt als im Unfallversicherungsgesetz, das einen Präventionsartikel kennt. Son etwas fehlt im Krankenversicherungsgesetz. «Krankheiten sieht man zudem als etwas Privates an, das nicht mit der Arbeit zusammenhängt», ergänzt Roger Staub.
Aufhorchen lässt ein kürzlich gefällter Bundesgerichtsentscheid. Einer Juristin, die im Bundesamt für Migration gearbeitet hatte, attestierte das höchste Schweizer Gericht, dass ihr Burnout auf ihre Arbeit zurückzuführen sei. Das sei ein Schritt in die richtige Richtung, findet Staub. Es müssten Anreize geschaffen werden, damit die Arbeitgeber sich um diese Problematik kümmerten. Das rechne sich für sie: «Ein Burnoutfall im mittleren Kader kann schnell in die Hundertausende von Franken gehen. Prävention ist günstiger.»
Warnzeichen erkennen
Es gibt wohl kaum jemanden, in dessen Bekanntenkreis nie ein Suizid vorgefallen ist. Und wer hat sich noch nie gefragt: «Was hätte ich tun können?» Diese Frage wird gleich beantwortet. Zuerst einmal geht es darum, zu erkennen, ob jemand suizidgefährdet ist.
«Es gibt eine Reihe von Warnzeichen», sagt Liliana Paolazzi, Suizid-Präventionsexpertin bei Pro Mente Sana. Sie zählt auf: «Die ernstesten Anzeichen sind sicher, wenn jemand sagt, dass er keinen Sinn mehr im Leben sieht und Suizid eine Option sei. Oder wenn man bemerkt, dass jemand anfängt, Suizidmethoden im Internet zu recherchieren. Auch wenn Gefühle grosser Hoffnungslosigkeit und Selbstkritik geäussert werden, sollte man hellhörig werden. Weitere Hinweise können der Rückzug aus dem Freundeskreis und die Einschränkung von Aktivitäten sein oder die Aufgabe von Hobbys. Manche Suizidwillige beginnen auch, sich auffällig zu verabschieden oder machen unterschwellige Andeutungen, dass man sich nicht mehr sehe. Andere verschenken Dinge oder geben ihr geliebtes Haustier ab. Ein sehr ernstzunehmendes Warnzeichen ist, wenn Leute, die in einer psychischen Krise wie einer schweren Depression stecken, plötzlich heiter, gelöst und gelassen werden.»
Psychische Krisen würden nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden, betont Liliana Paolazzi. Bemerke man eine urplötzliche Verhaltensveränderung, könne dies auch Indiz sein, dass der betroffene Mensch im Suizid einen Ausweg aus seiner Situation gefunden habe.
Die Suizid-Präventionsexpertin warnt: «Man muss sich bewusst sein, dass es Menschen gibt, die mehrere Anzeichen zeigen, es kann aber auch sein, dass keines davon sichtbar ist oder wahrgenommen werden kann.»
In der Regel falle es nicht zuerst am Arbeitsplatz auf, wenn es jemandem schlecht geht, stellt Roger Staub fest. Sondern im Familien- und dann im Freundeskreis. «Wenn es am Arbeitsplatz auffällt, ist es meistens schon sehr spät. Die Betroffenen tun alles dafür, dort ihre Gefühle zu kaschieren.»
Erstes Gebot: Ansprechen!
Was tue ich, wenn ich die oben beschriebenen Warnzeichen bei einer mir nahestehenden Person oder einer Arbeitskollegin feststelle? Die Antwort ist simpel (und doch nicht einfach, wie wir gleich sehen werden): «Ansprechen!», sagt Roger Staub. Und zwar sehr direkt und ohne herumzudrucksen und ohne das Wort «Suizid» vermeiden zu wollen.
Nur: wer kann das so locker bei einem so schweren Thema? Roger Staub schlägt zum Beispiel folgende Formulierung vor: «Du, ich mache mir Sorgen. Mir fällt auf… denkst du daran, dir das Leben zu nehmen?» Auch solche Worte werden den wenigsten leicht von den Lippen gehen, das ist dem Suizidexperten voll bewusst: «Das Dumme ist, dass man so etwas nicht sagen kann, wenn man es nicht geübt hat. Es widersteht uns, so etwas Ungeheuerliches zu äussern, wenn man es noch nie gemacht hat.» Dazu komme, dass die meisten davon ausgingen, dass der Betroffene den Suizid erst recht ausführe, wenn man ihn darauf anspreche. Das sei falsch, das Gegenteil sei der Fall.
Die richtige Ansprache kann man eben in den ensa-Kursen (Erste Hilfe für psychische Gesundheit) von Pro Mente Sana lernen. Die Inhalte fasst Roger Staub so zusammen: «Wir vermitteln Fakten zu Suizid, räumen mit Mythen auf, machen auf die Warnzeichen aufmerksam und lehren die drei Schritte der Ersten Hilfe: ansprechen/nachfragen, für Sicherheit sorgen und Profis ins Spiel bringen.»
Mit den Kursen tut man sich nicht zuletzt selbst etwas Gutes. «Messungen haben eindeutig ergeben, dass die psychische Gesundheit bei den Kursabsolventen auch besser wird», unterstreicht Roger Staub.
Anderen und sich selbst helfen – wenn dies genügend Menschen in unserem Land tun, dann kann sich Roger Staubs Vision verwirklichen und wir bringen die Suizidprävention ein gutes Stück voran. Machen auch Sie mit!
Hansjörg Schmid
Das Angebot von Pro Mente Sana
Die Stiftung Pro Mente Sana engagiert sich mit unterschiedlichen Projekten und Dienstleistungen für die Gleichstellung von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung.
Zum Angebot gehören unter anderem die im Haupttext erwähnten ensa-Kurse (Erste Hilfe für psychische Gesundheit) sowie Massnahmen zum Thema psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. Weiter vermittelt Pro Mente Sana Vertrauens- und Begleitpersonen.
Eine wichtige Aufgabe ist schliesslich die kostenlose Beratung zu rechtlichen oder psychosozialen Fragen für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, deren Angehörige und Nahestehende sowie weitere Bezugspersonen. Menschen in einer Krise erreiche die psychosoziale Beratung unter Telefon 0848 800 858.