Bericht des Bundesrates zur Situation des Mittelstandes
Mittelstand mit Erkältungsgefahr
Der Bericht des Bundesrates zum Mittelstand zeigt eine stabile Entwicklung dieser Bevölkerungsschicht von 1998 bis 2014. Verschiedene Faktoren belasten ihn aber zunehmend. Hier sind Reformen gefordert.
„Der Mittelstand tritt an Ort“ – dies war die Schlussfolgerung der Angestellten Schweiz aus einer Mittelstandsstudie, die der Verband 2010 in Auftrag gegeben hatte. Sie stellte fest, dass es dem Mittelstand finanziell im Vergleich zur besser gestellten Schicht kaum besser ging als vor 20 Jahren. Die SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer nahm damals die Studie zum Anlass, den Bundesrat mittels Postulat aufzufordern, einen ausführlichen Bericht über den Mittelstand zu erstellen.
Der bundesrätliche Bericht erschien im Frühjahr 2015. Er kommt in der Essenz zum gleichen Schluss wie die Studie 2010 der Angestellten Schweiz sowie zwei Folgestudien des Verbandes (2011, 2012): Es bewegt sich wenig beim Mittelstand. 1998 gehörten rund 57 Prozent der Bevölkerung dieser Schicht an, 2012 ebenso. Dazwischen war der Anteil etwas höher.
Die Erwerbseinkünfte und Haushaltseinkommen der Mittelschicht stiegen in den letzten 10 bis 15 Jahren, die Kaufkraft nahm zu. Das durchschnittlich verfügbare Äquivalenzeinkommen verzeichnete mit 13 Prozent im Beobachtungszeitraum (1998 bis 2012) in der mittleren Einkommensgruppe sogar den grösseren Zuwachs als in den beiden anderen Gruppen (je knapp 9 Prozent). Bei den mittleren Einkommen blieb die Umverteilung durch Steuern und Abgaben insgesamt relativ stabil.
Über eine lebenszeitliche Perspektive gesehen sind die Einkommen deutlich gleicher verteilt als über eine Jahresperspektive. Eine im Bericht zitierte Studie aus dem Kanton Zürich besagt, dass es zwischen 2001 und 2010 rund 46 Prozent der Haushalte aus dem untersten Einkommensfünftel gelang, aufzusteigen. Es gibt also eine relativ hohe Einkommensmobilität.
Diese Resultate sind so weit einmal beruhigend. Der Bericht zeigt aber auch einige Problemfelder auf, in welchen aus Sicht der Angestellten Schweiz Handlungsbedarf besteht.
Problemfeld 1: Steigende Anforderungen im Berufsfeld
Der Bericht konstatiert, dass die Anforderungen an den Mittelstand in zwei Punkten deutlich zugenommen haben:
- Bezüglich Ausbildungsniveau
- Bezüglich Beschäftigungsumfang der Haushalte auf Grund einer Ausweitung des Erwerbsvolumens der Frauen
In anderen Worten: Mittelstandsfamilien arbeiten mehr und müssen mehr in die Bildung investieren, um ihre Position halten zu können. Das Leben dieser Bevölkerungsschicht ist dadurch deutlich angespannter als vor zehn oder zwanzig Jahren. Der Grund, dass mehr gearbeitet wird, dürfte unter anderem darin liegen, dass ausgerechnet die Reallohnentwicklung der Beschäftigten mit mittleren Einkommen und mittlerem Ausbildungsniveau zum Teil deutlich hinter die gesamtschweizerische Reallohnentwicklung zurückgefallen ist. Die Angestellten Schweiz verlangen darum mehr Transparenz bei den mittleren Löhnen und forderten mehrfach, dass diese steigen müssen.
Problemfeld 2: Explodierende Krankenkassenprämien
Die Kosten für die Krankenversicherung steigen und steigen. Lagen sie 1996 im schnitt bei 173 Franken, waren es 2014 bereits 396 Franken – satte 140 Prozent mehr! In diesem Jahr kommt das Mittel auf 412 Franken zu liegen. Vergleicht man das Wachstum der Prämien im Beobachtungszeitraum – im Schnitt 4,7 Prozent jährlich – mit dem Wachstum des BIP (nominal 1,9 Prozent) und der Löhne (1,2 Prozent) im gleichen Zeitraum, so fällt sofort auf: Die Krankenkassenprämien nehmen eine immer wichtigere Position im Budget der Haushalte ein. „Mittelschichtshaushalte werden (…) im Verhältnis zu ihrem Haushaltseinkommen relativ stark belastet“, stellt der Bericht fest. Die Belastung ist im Mittelstand höher als in der unteren und oberen Schicht. Die Situation ist zudem von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Die Nettobelastung durch die Krankenkassenprämien schwankt je nach Kanton und Einkommen zwischen 5 und 16 Prozent. Dass die Unterschiede zwischen den Kantonen deutlich ausgeprägter sind als zwischen den Einkommensklassen ist ein Hinweis darauf, dass die Kantone die Prämienverbilligungen sehr unterschiedlich handhaben.
2013 erstellte das gfs Bern im Auftrag der Angestellten Schweiz und der Zeitschrift Beobachter eine weitere Mittelstandsstudie, den Familienmonitor. Dieser Monitor mass die Befindlichkeit des Schweizer Mittelstandes. Als grösste Sorge nannten die Befragten, dass sie oder ihnen nahe stehende Personen krank werden könnten. Krankheiten können bekanntlich sehr ins Geld gehen. Stetig steigende Krankenkassenprämien verschärfen die Angst des Mittelstands um die Gesundheit. Dazu kommt, dass in diversen Kantonen die erwähnte Krankenkassenprämienverbilligung (weiter) unter Druck gerät. Wird sie reduziert, trifft es in erster Linie den Mittelstand, weil vor allem dort gekürzt wird.
Bezüglich der Gesundheitskosten sind dringlich Reformen gefragt, welche den Mittelstand entlasten. Der Bericht führt zwei mögliche Reformszenarien auf. Beiden liegt eine Abschaffung der Krankenkassenprämien zugrunde. Im einen Fall würde die Finanzierung durch die direkte Bundessteuer erfolgen, im anderen durch die Mehrwertsteuer. Im ersten Szenario würde sich eine starke Umverteilungswirkung zulasten der oberen Einkommensklassen ergeben, der Mittelstand und die untere Schicht würden profitieren. Ähnlich wäre es beim zweiten Vorschlag, der Mittelstand würde zum Teil deutlich entlastet. Wie geeignet die Reformvorschläge sind und ob sie durchsetzbar sind, muss genau geprüft werden.
Angegangen werden muss auch die frappant unterschiedliche Belastung in den einzelnen Kantonen. Die meisten Mittelstandshaushalte können nicht einfach den Kanton wechseln, wenn die Krankenkassenprämien plötzlich fast unerschwinglich werden.
Problemfeld 3: Hochpreisinsel Schweiz
Die Schweiz ist ein ausgeprägtes Hochpreisland und der starke Franken macht sie noch mehr dazu. Im Vergleich zu den Kernländern der EU waren die Preise in der Schweiz im Jahr 2013 im Schnitt 41,1 Prozent höher. Gerade die im europäischen Vergleich sehr teuren Konsumbereiche – Wohnen, Lebensmittel und Freizeit – nehmen einen massgeblichen Anteil des Haushaltbudgets der Mittelschicht in Anspruch.
Die hohen Preise haben „einen bedeutenden Einfluss auf die Kaufkraft der Schweizer Konsumenten“, schlussfolgert der Bericht. Gegen die hohen Preise in der Schweiz könnte und müsste schon lange etwas getan werden. Zum Beispiel, indem man Parallelimporte zulässt oder für die EU zugelassene Produkte auch hierzulande ohne Schikanen verkaufen kann. Dass sich prominente Politiker wie Toni Brunner oder Corrado Pardini dagegen sträuben, schadet dem Mittelstand.
Wenn es mit Reformen gelingt, die Preise in der Schweiz zu senken, gerade auch für das Wohnen, dann wird der Mittelstand entlastet und es werden Arbeitsplätze erhalten. Die Sorge um den Arbeitsplatz kommt beim Mittelstand nämlich gemäss Familienmonitor direkt nach der Sorge um die Gesundheit.
Problemfeld 4: Teure Mieten
Das Wohnen ist für den Mittelstand besonders in den Städten teuer – und wegen der hohen Bodenpreise in beliebten Feriendestinationen wie dem Oberengadin oder Crans-Montana. Bodenpreise können geschätzte 76 Prozent der regionalen Unterschiede bei den Mietpreisen und 62 Prozent bei den Wohneigentumspreisen ausmachen.
Der Mittelstand wohnt wieder vermehrt zur Miete statt in Wohneigentum. Der Anteil an Mietern nahm gemäss Familienmonitor zwischen 2010 und 2013 von 44 auf 47 Prozent zu. Trotz der tiefen Zinsen konnte sich der Mittelstand weniger Wohneigentum leisten – wohl, weil er immer weniger sparen und so kein Eigenkapital aufbringen konnte.
Mieten ist aber gemäss dem Bericht über den Mittelstand teurer als besitzen: Die Belastung des Brutto-Haushaltseinkommens ist für Mieterhaushalte im Zeitraum 2009 bis 2011 mit 19 Prozent deutlich höher ausgefallen als die der Eigentümerhaushalte. Sind die Wohnkosten im Schnitt seit 1998 um etwa 2 Prozent gesunken, gilt dies für die Mieten nicht; diese stiegen um 0,4 Prozent.
Viele Mittelstandsfamilien würden gerne in den eigenen vier Wänden wohnen. Eine gezielte Wohneigentumsförderung durch Gemeinden und Kantone könnte sie ihrem Traum näher bringen und erst noch deren Wohnkosten reduzieren.
Kein Bekenntnis zu Reformen
Der bundesrätliche Bericht zum Mittelstand führt am Schluss auf, wie eine Politik zugunsten des Mittelstandes aussehen könnte. Generell gebe es zwei Möglichkeiten:
- Umsetzung von wachstums- und wettbewerbsfördernden Reformen, die direkt oder indirekt Einfluss auf die Hochpreisinsel Schweiz nehmen
- Klassische Umverteilungspolitik via Steuern, Transfers, Sozialversicherungen
Die erste Massnahme stärke tendenziell die Kaufkraft aller Schichten (Vergrösserung des Kuchens) schreibt der Bundesrat und lässt durchblicken, dass er sie bevorzugen würde. Bei der Umverteilung befürchtet er hingegen, dass der Kuchen aufgrund „negativer Erwerbs-, Spar- und Investitionsanreize tendenziell kleiner wird“. Eine Stärkung des Mittelstandes sei so nur durch Inkaufnahme einer wirtschaftlichen Schwächung anderer Gruppen möglich.
So oder so, ein beherztes Bekenntnis zu Reformen zugunsten des Mittelstandes klingt anders. Es bleibt an Angestelltenverbänden wie den Angestellten Schweiz und an Politikern, solche zu fordern.
Hansjörg Schmid
Definition des Mittelstandes
Zur mittleren Einkommensgruppe gehören 2012 gemäss der Definition des Bundesamtes für Statistik jene Personen, deren Haushalt über ein Bruttoäquivalenzeinkommen zwischen 70 Prozent und 150 Prozent des Medians verfügt. Dies sind beispielsweise Alleinlebende mit einem monatlichen Bruttoeinkommen zwischen 3668 und 8289 Franken oder Paare mit zwei Kindern unter 14 Jahren mit einem monatlichen Haushalteinkommen von brutto 8123 bis 17 406 Franken.