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Das Online-Magazin der Angestellten Schweiz

«In Taiwan ist alles super einfach»

Im Erasmus-Austauschsemester in Dänemark hat der 27-jährige Primalehrer Felix Steger seine taiwanische Freundin kennengelernt – und lebt jetzt mit ihr in Taipeh. Im Interview verrät er, wie sich das Leben dort anfühlt, was ihm gefällt und was nicht und was die Schweiz von Taiwan lernen könnte.

Felix, du lebst aktuell in Taiwan. Was machst du dort?

Ich arbeite an der Deutschen Schule als Primarlehrer. Die Deutsche Schule Taipei ist Teil der Taipei European School und eine anerkannte Deutsche Auslandsschule. Da unterrichte ich nach dem Deutschen Lehrplan von Thüringen derzeit eine vierte Klasse. Ich habe eine heterogene Lerngruppe mit 19 Schüler*innen, die teilweise deutschsprachige Expats, teilweise Taiwaner und teilweise halb Taiwaner halb Deutsche sind. Die meisten wachsen zwei bis dreisprachig auf.

Wo liegen für dich in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht die grössten Unterschiede zwischen Taiwan und der Schweiz?

Ich denke, in Taiwan hat man ein ganz anders Verhältnis zu Risiko und Verantwortung. In Taiwan ist man risikobewusster und auch vorsichtiger in vielen Lebensbereichen. Es wird viel genauer abgewogen, ob man ein Risiko eingeht/eingehen muss oder nicht. Das sah man sehr deutlich im letzten halben Jahr während der Corona-Pandemie. Die Menschen sind sehr eigenverantwortlich und haben im Zug die Masken angezogen, selbst als es noch nicht obligatorisch war. Ebenso kam und kommt es nach wie vor praktisch niemandem im Traum in den Sinn, in andere Länder in die Ferien zu gehen. Dies tatsächlich wegen dem Risiko, angesteckt zu werden. Ich selbst habe eher die Einstellung «wird schon gut gehen». Sichtbar wird die Vorsicht bei der Kindererziehung. Eltern in Taiwan sind sehr vorsichtig und beschützend. Die Kinder haben deshalb grossen Respekt vor Gewittern und Angst, Scherben vom Boden aufzulesen. Das habe ich einmal ganz geschockt zur Kenntnis genommen, als ein Glas im Schulzimmer auf den Boden fiel. Taiwaner wägen sehr vorsichtig ab, welches Risiko sie eingehen wollen und beziehen viele Faktoren mit ein. Mir scheint es, dass sie daher häufig umsichtiger, vorausschauender und besonnener handeln als ich. Es hat aber sicher auch einen Zusammenhang mit fehlenden Versicherungen – eine Haftpflicht-Versicherung gibt es hier zum Beispiel nicht.

Wie unterscheiden sich die Mentalitäten?

In Taiwan hat die Familie eine ganz andere Bedeutung als bei uns. Die Familie ist das höchste Gut und wird respektiert. Obwohl Taiwan eine aufgeklärte und moderne Gesellschaft ist (die gleichgeschlechtliche Ehe ist zum Beispiel legal), lebt das Ehepaar nach wie vor häufig bei den Eltern des Mannes. Die Familie wird ohne Wenn und Aber respektiert. Was die Eltern sagen, gilt. Was aber nicht heisst, dass man das nicht für sich auslegen kann, die Eltern von etwas anderem überzeugen kann oder schlicht ignoriert, was sie wollen. Man muss einfach irgendwie im Einklang mit den Eltern sein. Sonst wird man nicht mehr zu Familienfeiern eingeladen, auch weil man zum Beispiel die falsche Freundin hat. Es gibt Familien, in denen die Kinder den Eltern monatlich Geld bezahlen, um die Kosten ihrer Kindheit zurückzubezahlen.

Was sich in der Familie manifestiert, ist symptomatisch für den Respekt, der in Taiwan allen Älteren gilt. Was jemand Älteres sagt, wird in der Regel nicht hinterfragt und bleibt unwidersprochen. Dies ist im Arbeitsalltag noch stärker spürbar als in der Familie.

Wie ist die taiwanische Arbeitsmoral?

In Taiwan lebt man primär für die Arbeit und arbeitet auch mal 12 bis 14 Stunden, wenn das verlangt wird. Dass über Line (die Taiwanesische Version von WhatsApp) kommuniziert wird, bis tief in die Nacht und selbst im Bett kurz vor dem Schlafen geschäftliche Nachrichten ausgetauscht werden, ist normal. Ich kann meinem Bankberater zu jeder Tag- und Nachtzeit schreiben, wenn ich meine Bankkarte verliere. Und er sperrt sie mir innerhalb von 30 Minuten!

Was können wir als Schweizer von Taiwan lernen?

Wir können von Taiwan lernen, wie sie Tradition und Moderne in Einklang bringen. Ich finde faszinierend, wie sie Neuem gegenüber so offen sind und Innovationen – zum Beispiel technische – adaptieren. Sie machen Neues, ohne Altbewährtes zu verraten. Das macht den Alltag so «convenient», so angenehm, wie ich es noch nie in einem anderen Land erlebt habe. Man kann sich quasi alles in die «7-11» bestellen, die es buchstäblich an jeder Ecke gibt und die 24 Stunden geöffnet sind. Die Technik hat Taiwan auch geholfen, das Corona Virus so gut zu kontrollieren. Ohne lange zu zögern, haben sie Funkzellendaten ausgewertet, um potenzielle Ansteckungen zu vermeiden. Ebenso schnell haben sie ein staatliches System für den Gesichtsmasken-Verkauf aufgebaut, um Hamsterkäufe und Preisexplosionen zu verhindern. Dank ihrem Pragmatismus kann die Taiwanische Gesellschaft sehr effizient, schlagkräftig und innovativ sein. Zum Beispiel wollen sie Englisch auch als Amtssprache einführen.

Gerade wegen ihrem Pragmatismus haben Taiwaner*innen oft eine sehr realistische – wenn auch häufig eine etwas zu bescheidene – Einschätzung von ihren eigenen Fähigkeiten. Sie tragen auch die Auffassung in sich: Alles kann man lernen.

Was sollten wir eher nicht übernehmen?

Die hierarchischen Strukturen und die Null-Fehlerkultur sollten wir auf keinen Fall adaptieren! Fast niemandem gelingt es einen Fehler zuzugeben. Sei es einem Chef, Verkäufer oder Schüler. Deshalb ist es auch das erste, was ich meinen Schülern beibringe: Sich entschuldigen tut nicht weh. Taiwan ist im Vergleich zu Japan oder Südkorea noch harmlos, aber auch hier gibt es ab und zu Suizide von Vorgesetzten, weil etwas unter ihrer Verantwortung misslungen ist. Diese Fehlerkultur sorgt dafür, dass alle unter einem enormen Druck stehen. So kann man unmöglich ein kreatives und freies Leben führen. In Kombination mit einer sehr streng hierarchischen Struktur, die oft auch einfach auf dem System «Erfahrungsjahre» basiert, ist das Arbeitsleben als Berufseinsteiger eher anstrengend und beklemmend. Eigene Ideen oder eigene Lösungswege sind nicht gerade gefragt. Kellnern in den Restaurants werden häufig sogar Sätze vorgeschrieben, die sieauswendig lernen.

Wie schätzt du aktuell den asiatischen Einfluss auf unsere Gesellschaft ein?

Gerade der chinesische Einfluss hat in den letzten Jahren extrem zugenommen. Traditionsreiche Unternehmen werden von chinesischen – teilweise staatlichen –  aufgekauft. Huawei oder Xiao Mi drängen auf den Technologiemarkt und expandieren in einem enormen Tempo. Mir macht das etwas Sorge, weil die pluralistische und demokratische Gesellschaft gegenüber einer so einheitlichen und durchstrukturierten Kultur anfällig ist und es verpasst, wichtige Grenzen zu setzen und sich dagegen zu behaupten. Gerade weil wir halt zuerst darüber diskutieren müssen. Ich hoffe, Europa schafft es, sich in den nächsten zehn, 20 Jahren dagegen zu wehren, um ihre demokratischen und freiheitlichen Werte zu verteidigen. Die Werte der asiatischen Arbeitskultur wie ständige Verfügbarkeit, Null-Fehlerkultur und hierarchische Strukturen sind ja sehr nahe an der Arbeitskultur eines ausbeuterischen Raubtier-Kapitalismus, den es ohne gewerkschaftliches Gegengewicht geben würde und der für viele Gewinner des Systems erstrebenswert ist. Gerade deshalb können asiatische (ich meine dabei vor allem: chinesische) Unternehmen so erfolgreich in Europa expandieren. Dies verleitet zu einer sehr unkritischen Haltung gegenüber China, wie sie sich gerade in der Taiwan-Frage zeigt. Obwohl Taiwan de facto ein völlig eigenständiger und souveräner Staat ist, wird er von der internationalen Gemeinschaft nicht als solcher anerkannt, weil China diesbezüglich eine andere Haltung hat.

Was bringt dir, denkst du, dieser Aufenthalt für die berufliche Zukunft in der Schweiz?

Ich denke, es ist ein grosser Vorteil, in einem anderen Land gearbeitet zu haben. Man wird flexibler, offener und gleichzeitig weiss man wieder besser, was die wesentlichen Werte sind, die man an der Heimat schätzt. Als Lehrer arbeitet man ja häufig an multikulturellen Schulen. Mit dieser Erfahrung kann ich mich auch besser in ausländische Kinder hineinversetzen.

Warum sollen junge Menschen, wenn sie im Ausland Erfahrungen sammeln wollen, nach Asien?

Ich kann nur für Taiwan sprechen: Das Land ist so sicher und sauber wie die Schweiz und trotzdem kann man in eine ganz andere Kultur eintauchen. In Taiwan ist eigentlich alles super einfach – sämtliche Schilder sind auch Englisch beschriftet und «7-11» gibt es an jeder Ecke. Die Taiwaner*innen sind sehr freundlich und hilfsbereit. Viele sprechen auch sehr gut Englisch, freuen sich aber umso mehr, wenn man sich die Mühe gibt, Chinesisch zu sprechen. Und Chinesisch zu lernen kann ich sowieso allen empfehlen.

Interview: Hansjörg Schmid

Dienstag, 20. Okt 2020

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