Die Welt der Digital Natives
Die Generation Y ist in der digitalen Welt aufgewachsen. Wie unterscheidet sie sich von den älteren Generationen? Welche Werte sind ihr wichtig? Wie wird sie die Arbeitswelt prägen? Welche Ansprüche stellt sie an die Bildung?

Ich kam in den frühen Sechzigern auf die Welt, bin also ein Grenzfall zwischen der Generation Babyboomer und der Generation X. Technologie war in meiner Jugend und in den ersten erwachsenen Jahren mechanisch (Schreibmaschine) oder analog (Telefon mit Wählscheibe, Tonband). Um die neuen digitalen Geräte bin ich zwar froh und ich nutze sie intensiv, aber ich habe Respekt vor ihnen und ich fühle mich oft etwas unsicher. Wenn ich nicht weiss, wie ich ein System bedienen muss, bin ich froh, wenn ich meine Arbeitskollegin aus der Generation Y fragen kann.
Die Angehörigen der Generation Y wurden zwischen 1980 und 1999 geboren. Sie ist die erste Generation, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist (Digital Natives). „Die Generation Y legt ein anderes Kommunikationsverhalten an den Tag. Sie benutzt nicht nur andere Medien, auch ihre Sprache hat sie verändert.“ Dies stellt Prof. Veronika Bellone fest, Dozentin für Marketing an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Brugg/Windisch. Sie hat einen neuen Kurs namens "White Space" entwickelt, in dem Studierende Marketing-Know-how direkt anwenden, um Zukunftsmodelle für verschiedene Branchen wie Bankwesen, Gastronomie und Hotellerie zu entwickeln. Zwischenergebnisse, Lösungen und Dozierendenbewertungen werden über Projektplattformen ausgetauscht. Die Zukunftsmodelle werden als Prototypen im Rahmen von Abschlusspräsentationen visualisiert und aus verschiedenen Nutzenperspektiven vorgestellt. (Zum Thema „Protoyping“ siehe Kasten nebenan.) „Die Angehörigen der Generation Y drücken sich oft kurz und stichwortartig aus“, sagt Veronika Bellone. Sie bemerkt, dass die wenigsten noch einen eigenen Schreibstil haben. Dafür hätten sie andere Ausdrucksformen wie beispielsweise die Bildsprache kultiviert. Icons, Filme, Fotos - damit tausche sich diese Generation über die Sozialen Medien aus.
Lieber Internet als Radio, lieber Zug als Auto
Der Generation Y wird gerne vorgeworfen, sie sei unpolitisch, habe keine Werte mehr, pflege nur noch virtuelle Freundschaften und könne sich vor lauter Optionen für nichts mehr entscheiden. Philipp Riederle, 1994 geboren, hat ein ganzes Buch gegen solche Vorurteile geschrieben (siehe Kasten Buchtipp). Darin legt er dar, was seiner Generation wichtig ist und was sie erreichen will. Das beginnt bei einfachen Dingen. Riederle will zum Beispiel nicht im Stau stehen, darum fährt er statt Auto lieber Zug. Das Radio- und Fernsehprogramm findet er öde. Gute Musik abseits vom Mainstream findet er im Internet zuhauf, coole Videos auf Youtube. Wenn er etwas braucht, möchte er es finden, nicht suchen. Für einen „digital native“ im Internet nie ein Problem. Auf ein Auto als Statussymbol pfeift der jüngste Unternehmensberater Deutschlands. Wenn man eins braucht, gibt es Sharing-Angebote. Und was die Freundschaften betreffe, hätten Studien gezeigt, dass Menschen mit vielen Facebook-Freunden mehr echte Freunde hätten als solche ohne Facebook.
Der Vorwurf, die Generation Y sei unpolitisch, greift ebenfalls zu kurz. Sie geht vielleicht nicht auf die Strasse wie die 68-er oder die Generation X in den Achtzigern. Aber es war immerhin die Generation Y, die es kürzlich geschafft hat, die Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative der SVP zu drehen. Mit digitalen Mitteln und in kürzester Zeit.
Entscheidungsschwäche mag Veronika Bellone der Generation Y nicht vorwerfen. „Sie hat sich diese Welt ja nicht so ausgesucht, sie wurde in sie hineingeboren“, begründet sie. "Und sie entscheidet ebenfalls, nur anders."
Lernen, was interessiert und Spass macht
Hart ins Gericht geht Philipp Riederle mit dem Bildungssystem, wie er es erlebt hat: „Das Auswendiglernen und Wissen anwenden ist mir die vergangenen zwölf Jahre endlos gepredigt worden. Doch was hat es mir eigentlich gebracht, ausser einer Abiturnote?“ Sein Einwand, dass Wissen jederzeit überall via Internet abrufbar sei, ist sicher berechtigt. Dass „der Computer im Haus den Lehrer ersetzt“, mag hingegen bezweifelt werden. Sicher braucht es beides. Riederle plädiert dafür, spielerisch zu lernen und auf die persönlichen Interessen der Schüler und Studenten Rücksicht zu nehmen. „Das Bildungssystem wird in Zukunft vermehrt individuelle Lebenswege begleiten müssen“, findet auch Prof. Bellone. "Ein guter Mix zwischen Wissensvermittlung off- und online, Selbsstudium und Coaching bzw. Reflexionsgespräche mit Dozierenden, das scheint mir ein guter Weg zu sein, Studierende auf ihr Berufsleben vorzubereiten. Dieses ist zunehmend von Reaktionsschnelle und Agilität geprägt." Spielerische Elemente baut Veronika Bellone selber in ihren Unterricht ein: "Botschaften werden immer stärker über visuelles Storytelling ausgedrückt. Studierende stellen darum zu einzelnen Inhalten Analogien in Form von Bildern her oder kreieren selbst Filme, um Sachverhalten zu demonstrieren."
Veronika Bellone glaubt hingegen nicht, dass Kurse in Zukunft nur noch online durchgeführt werden: „Offline-Kurse haben den Vorteil, dass man sich in einer richtigen und nicht in einer virtuellen Community trifft und sich von Mensch zu Mensch austauschen kann.“
Dass die Generation Y keine Werte mehr habe, vermag Veronika Bellone nicht festzustellen. Im Gegenteil: „Ganz wichtig ist die Authentizität. Gerade weil die Welt vermehrt virtuell stattfindet, ist der Drang zum Echten umso stärker ausgeprägt.“
Menschlichere Arbeitswelt
Die Generation Y nimmt sich heraus, nur so viel zu arbeiten, wie sie Lust hat. Sie wählt sich nach Möglichkeit den Job, der Spass macht. Dies nicht, weil sie faul oder verwöhnt wäre, sondern weil ihr die Zeit für sich und die Familie wichtig ist. Die Angehörigen der Generation Y seien freier in ihrem Leben als noch die Generationen vor ihr, sagt Veronika Bellone. Dies, weil „sie nicht so viel feste Werte anschaffen“. Sprich: Man muss mit 40 kein Haus mit Doppelgarage besitzen. Vielmehr möchte man, ganz im Sinne des Songs der deutschen Gruppe Silbermond, „mit leichtem Gepäck durch die Welt reisen“. Mal da, mal dort arbeiten, auch mal über die eigenen Grenzen hinausgehen. „Wenn man das weiterdenkt, dann merkt man, dass eine Revolution auf uns zukommt, gerade in der Arbeitswelt“, gibt Veronika Bellone zu bedenken. „Die Mitarbeitenden-Kultur wird sich extrem verändern. Die Babyboomer waren hierarchie-, die Generation X leistungsorientiert. Die neuen Generationen lassen sich davon weniger beeindrucken. Leben und arbeiten muss für sie harmonieren und Spass machen.“
Was ältere Generationen noch mit dem sperrigen Fachbegriff „Work Life Balance“ als Riesen-Innovation verkauft haben, ist für die Jungen einfach ganz selbstverständlich. Die früheren Generationen seien aber sowieso daran gescheitert, meint Philipp Riederle lakonisch: „Die viel beschworene Work-Life-Balance, die von einer Trennung zwischen Arbeits- und Privatleben ausgeht hat die Harmonisierung dieser beiden Bereiche letztlich nicht bewirken können.“ Riederle tritt dafür ein, dass das Private auch in der Berufswelt einen Stellenwert haben soll. „Wir sind alle Menschen, und das Menschliche in der Berufswelt bewusst aussen vor zu lassen passt nicht mehr in die Zeit“, schreibt er. Werde das Menschliche nicht mehr abgedrängt, so komme die „alte Schere zwischen Work und Life endlich zusammen“.
Die Atmosphäre in einem Unternehmen sei in Zukunft ganz wichtig, findet Veronika Bellone. Die Arbeitswelt müsse nicht grau und strikt sein, sondern bunt und kreativ wie bei Google. Dort kann man, um sich zu entspannen, einer für die Generationen Y und Z sehr typischen Tätigkeit nachgehen: dem Gamen. Dabei spannt man nicht nur ab, man befeuert auch seine eigene Kreativität.
Philipp Riederle geht noch wesentlich weiter, er würde gleich die Hierarchien mitsamt den geregelten Arbeitszeiten abschaffen: „Wer während seiner Lebens- und Arbeitszeit macht, was er will, braucht weder einen Chef, der auf ihn aufpasst, noch geregelte Strukturen, Arbeitszeiten oder gar Stechkarten“, lautet seine Begründung. Die Personen verfügten über genug Selbstverantwortung, dass sich ihre Leistung trage. Das wird sicher nicht überall funktionieren, aber vielleicht in Betrieben, wo grosse Kreativität und Unternehmergeist gefragt sind.
Gegenseitige Befruchtung
Unsere Arbeitswelt ist auf diese neue Art des Arbeitens noch wenig vorbereitet. Die Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg/Windisch, Prof. Veronika Bellones Arbeitsplatz, ist da auf ihrem neuen Campus schon besser eingerichtet (siehe Videobeitrag).
Einige Nachteile mögen die Ypsiloner aus meiner Babyboomer-/Generation-X-Sicht ja mitbringen. Vielleicht sind sie flüchtiger als wir, weniger aufmerksam, gelangweilt im Umgang mit älteren Generationen, nicht so schnell aus der Reserve zu locken. Beschäftigt man sich aber näher mit ihnen, verblassen die Vorurteile, die man gegen sie gehabt haben mag, rasch. Ich habe auf jeden Fall keine Angst davor, dass sie demnächst mehr und mehr von meiner Generation übernehmen wird. Zudem können und wollen sie ja auch noch etwas von uns lernen – wie wir es auch von ihnen sollten.
Hansjörg Schmid
Buchtipp
Im Buch „Wer wir sind und was wir wollen“ erklärt Philipp Riederle, Jahrgang 1994, seine Generation. Knaur Verlag.
Videobeitrag: Impressionen von Campus der FHNW Brugg/Windisch
Der im November 2013 eröffnete Campus der Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg/Windisch bietet einiges mehr als nur moderne Schulungsräume. Schauen Sie sich das Video an und erfahren Sie, was!
Profiling – so entwickelt die Generation Y neue Produkte
Wir können es uns in unserer schnelllebigen Zeit kaum mehr leisten, ein Jahr an Prototypen zu arbeiten – nur um dann festzustellen, dass das Produkt nicht so gut ankommt. Heute entwickelt man, auch dank virtueller Prozesse, in sehr kurzer Zeit einen Prototypen und holt dann sofort Feedback ein. Ein Beispiel: Eine Firma, die Navigationsgeräte herstellt, suchte einen neuen Markt. Sie kam auf die Idee, Navigationsgeräte für Sehbehinderte zu entwickeln. Die Navigation sollte per Ohrstöpsel erfolgen. Ein Team stellte eine Art Rohling her, der aussah wie ein Navigationsgerät, aber natürlich nur ein Dummy war. Damit ging es zu sehbehinderten Menschen, damit sie es ausprobieren konnten. Die Reaktion war ernüchternd. Das Team wurde aufgeklärt, dass die Ohren das Sinnesorgan waren, auf das sie sich ohne Augenlicht verlassen mussten. Sie würden die Ohren also niemals zustöpseln. Jemand hatte aber auch gleich die zündende Idee, wie man das Problem lösen konnte: Man sollte es mittels eines Gürtels umschnallen können und das Gerät würde mittels Vibration anzeigen, ob man nach links oder rechts gehen musste. Dank den Tests mit Dummies konnte sich das Navi-Unternehmen einen teuren Flop ersparen. (Prof. Veronika Bellone)
Mehr solcher Beispiele finden sich im Buch "Management Y" von Ulf Brandes, Pascal Gemmer, Holger Koschek und Lydia Schültken (Campus Verlag 2014).