Der Mittelstand gerät zunehmend unter Druck
Der Mittelstand ist immer wieder Gegenstand von Studien, Umfragen und Medienberichten. In der Novemberausgabe 2017 hat ihn die Zeitschrift „Die Volkswirtschaft“ des Staatsekretariats für Wirtschaft Seco zum Schwerpunkt gemacht. Hier eine Zusammenfassung und Einordnung der wichtigsten dort ausgebreiteten Fakten und Standpunkte.

Betrachtet man den Mittelstand in den OECD-Ländern (Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit), dann kommt man zu einem eindeutigen Befund: Die Situation des Mittelstands hat sich fast überall verschlechtert und die Angehörigen dieser Schicht betrachten ihre Aussichten als eher düster.
Seit dreissig Jahren wachsen die mittleren Einkommen in den OECD-Ländern weniger stark als die höchsten. Besonders krass ist dies in den USA zu beobachten. Der wirtschaftliche Einfluss des Mittelstands nahm stärker ab als sein Anteil in der Gesamtbevölkerung. Die Vereinigten Staaten stechen heraus: Der Anteil des Mittelstands am Gesamteinkommen ging seit 1985 um beinahe 14 Prozentpunkte zurück.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schrumpfte der Mittelstand in den OECD-Ländern, deutlich zum Beispiel in Deutschland. Mitte der Achtzigerjahre betrug der Anteil der mittleren Einkommensgruppe im Schnitt der Länder 63 Prozent, Anfang der Nullerjahre noch 61 Prozent. Besonders deutlich verlief diese Entwicklung in Deutschland, Finnland, Polen, der Slowakei und Schweden. In den USA liegt der Anteil des Mittelstands bei lediglich 50 Prozent. Im Gegensatz dazu stehen die nordischen Länder mit 75 Prozent.
Immer weniger Familien schaffen den Aufstieg in den Mittelstand. In den letzten Jahrzehnten hat der Prozentsatz von Familien mit Kindern in der mittleren Einkommensgruppe abgenommen, während er in den unteren gestiegen ist.
Polarisierung des Arbeitsmarkts als Hauptgrund
Ein Hauptgrund dafür, dass der Mittelstand zunehmend unter Druck gerät, ist die Polarisierung des Arbeitsmarkts. Eine OECD-Studie hat zutage gebracht, dass die Jobs für mittel Qualifizierte, unter anderem als direkte Folge der Digitalisierung, wegbrechen. Mehr Jobs gibt es für höher Qualifizierte, allerdings auch für tiefer Qualifizierte. Das bedeutet, dass der Teil der Erwerbstätigen aus dem Mittelstand, der es nicht nach oben schafft, nach unten rutscht. Mehr über dieses Thema erfahren Sie im Beitrag „Jobs für mittel Qualifizierte geraten unter Druck“.
Ein weiterer gewichtiger Grund für die negative Entwicklung des Mittelstands in den OECD-Ländern sind atypische Arbeitsformen wie Temporärarbeit, Teilzeitarbeit, Arbeit auf Abruf oder Scheinselbständigkeit. Weitere Faktoren sind höhere Lebenskosten, eine höhere Belastung durch Steuern und Abgaben, weniger Transferleistungen, aber auch gestiegene Ansprüche. Nicht wenige Angehörige der Mittelschicht ahmen nämlich gerne den Lebensstil der Oberschicht nach.
Die Schweiz als Ausnahme
Die Schweiz ist einmal mehr ein Sonderfall. Bei uns ist nämlich der Mittelstand im Gegensatz zu den anderen OECD-Ländern sehr stabil. Der wichtigste Grund dafür ist wiederum in der Bildung zu finden. Unser cleveres, flexibles und durchlässiges Bildungssystem hat offenbar verhindert, dass die Polarisierung des Arbeitsmarktes auf Kosten des Mittelstands verläuft. Die Grafik der OECD im Artikel „Jobs für mittel Qualifizierte geraten unter Druck“ zeigt eindrücklich, dass in der Schweiz zwar Jobs für mittel Qualifizierte auch stark am Verschwinden sind. Im Gegensatz zu anderen OECD-Ländern gab es aber keine Verlagerung hin zu Jobs mit tiefen Anforderungen, sondern ausschliesslich hin zu solchen mit hohen. Es gelang also dem Mittelstand, qualifikationsmässig auf- statt abzusteigen. Allerdings ist dabei anzumerken, dass dies nicht notwendigerweise mit mehr Einkommen verbunden sein muss. Vielmehr wird heute für ein mittleres Anforderungs- und Lohnniveau ein tertiärer Bildungsabschluss immer zwingender. Eine abgeschlossene Lehre ist definitiv keine Garantie mehr dafür, dass sich jemand im Mittelstand halten kann.
Trotz der Stabilität unseres Mittelstands gibt es auch hierzulande einige Entwicklungen, die Sorge bereiten. So hat eine Studie des Bundesamts für Statistik zutage gebracht, dass der untere und der obere Mittelstand auseinanderdriften. Bezüglich Lebensstandard macht es einen beträchtlichen Unterschied, zu welcher dieser Schichten man gehört. Mehr darüber können Sie im Beitrag „Mitte ist nicht gleich Mitte“ nachlesen.
Ein weiterer Grund zur Sorge ist, dass auch in der Schweiz die mittleren Einkommen schwächer zunehmen als die höheren. Zwischen 2004 und 2014 betrug die jährliche nominale Zunahme der Nettoäquivalenzeinkommen im Schnitt 1,42%. (Das Äquivalenzeinkommen ist das Einkommen, das jedem Mitglied eines Haushalts, wenn es erwachsen wäre und alleine leben würde, den gleichen (äquivalenten) Lebensstandard ermöglichen würde, wie es ihn innerhalb der Haushaltsgemeinschaft hat.) Die mittleren Einkommen nahmen aber nur um 1,2% zu, die höheren um 2,21% und die tiefen lediglich um 0,63%. Zum Teil vermögen die Steuern und Abgaben sowie die Transferleistungen die Unterschiede zugunsten des Mittelstands einigermassen auszugleichen. Allerdings kam es in den letzten Jahren zu Entwicklungen, die dies zunehmend in Frage stellen. Durch die steuerliche Entlastung der ganz Reichen (zum Beispiel durch die Abschaffung der Erbschaftssteuer) oder der Abbau der Krankenkassenprämienverbilligung in verschiedenen Kantonen wird der Mittelstand wieder stärker belastet. Ein immer noch nicht ausgerottetes Übel sind Grenzsteuersätze, welche es für Paare oder Familien unattraktiv machen, ein Zweiteinkommen zu erzielen. Wer will schon gerne den grössten Teil des zusätzlich verdienten Geldes dem Staat abgeben (oder für die Kinderbetreuung ausgeben)?
Den Mittelstand plagen grosse Verlustängste
Ein interessantes Phänomen sind die grossen Unterschiede in den OECD-Ländern im Bezug darauf, wie gross der Bevölkerungsanteil ist, der sich zum Mittelstand zählt. Sehen sich lediglich 30 bis 40 Prozent der Portugiesen und Briten dem Mittelstand zugehörig, sind es in Dänemark, Island und den Niederlanden fast 90 Prozent. Auch in der Schweiz liegt der Anteil mit 82 Prozent sehr hoch – weit höher, als er gemäss Bundesamt für Statistik effektiv ist, nämlich 57 Prozent (für eine Definition des Mittelstands siehe Kasten). Im Schnitt der OECD-Länder beträgt der Wert knapp sieben von zehn Personen.
Dass sich eher mehr Menschen dem Mittelstand zugehörig fühlen, als es effektiv sind, ist vielleicht mit ein Grund, dass dieser Stand seine Situation zunehmend pessimistisch einschätzt. Wenn der Mittelstand schrumpft wie in den USA oder Deutschland, dann versteht man diese Ängste nur allzu gut. Pessimismus herrscht vor allem mit Blick in die Zukunft. In den meisten OECD-Ländern geht über die Hälfte der Bevölkerung davon aus, dass die heutigen Kinder im Erwachsenenalter in finanzieller Hinsicht schlechter gestellt sein werden als ihre Eltern.
Auch in der Schweiz geht die Angst vor dem Abstieg um. Die Gründe dafür sind vielfältig: Das Wohnen wird zunehmend teurer und Wohneigentum immer weniger erschwinglich. Die Krankenkassenprämien steigen rasant an. Geld auf die Seite zu legen wird schwieriger. Möchten Sie mehr über die Befindlichkeit des Mittelstand in der Schweiz wissen, lesen Sie das Apunto 6/2013.
Populismus als dramatische Folge
Die Folgen, welche der – reale oder gefühlte – Abstieg des Mittelstands hat, sind allseits zu beobachten und dramatisch. Der Wohlstand in den westlichen Ländern ist immer ungleicher verteilt, was auch zulasten des Mittelstands geht. Dies empfinden die Angehörigen der Mittelschichten zu Recht als ungerecht. Sie begehren auf und wählen aus Protest oft populistische Politiker, die Abhilfe versprechen. Leider setzen sich die wenigsten dieser Politiker wirklich für den Mittelstand ein, eher im Gegenteil. Sie richten aber mit ihren protektionistischen, fremdenfeindlichen und illiberalen Programmen grossen Schaden an der Demokratie an und destabilisieren Länder und internationale Beziehungen. Die gemässigten Politiker sind offenbar völlig ratlos, wie sie reagieren sollen.
„Die Ungleichheit und die soziale und wirtschaftliche Polarisierung sind für mich die zentralen Herausforderungen unserer Zeit“, sagt Marcel Fratzscher, der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW in Berlin, im Interview in der Volkswirtschaft 11/2017. Der Ökonom glaubt, dass die Leistungsgesellschaft nicht mehr funktioniert, ein grosser Teil der Bevölkerung sei von Anfang an vom Markt ausgeschlossen. In den Fünziger- bis Siebzigerjahren habe es zwar auch Menschen mit sehr geringem Einkommen gegeben, aber „damals hat der Gesellschaftsvertrag funktioniert, da alle wussten: Anstrengung und Arbeit lohnen sich“. Diese Zuversicht gehe heute teilweise verloren. Das dadurch entstehende Gefühl der Chancenlosigkeit sei gefährlich für die Demokratie und den Wohlstand einer Volkswirtschaft.
Rezepte wären durchaus vorhanden
Rezepte gegen die unerfreuliche Entwicklung des Mittelstands müssen eigentlich nicht gesucht werden. Die Politik müsste nur dem Mut haben, sie konsequent umzusetzen. Dies sollte sehr rasch passieren, denn sind die Geister einmal da, die man gerufen hat, wird man sie nur mehr schwer los. Sind die Populisten nämlich einmal am Regieren, verschwinden sie nicht so schnell wieder, wie die Beispiele USA, Ungarn oder Polen zeigen.
Die Schweiz ist durchaus geeignet, als Vorbild zu dienen. Vor allem unser Bildungssystem schafft es, den Mittelstand auf hohem Niveau zu (er)halten. Allerdings müssen auch wir aufpassen, dass wir dieses System nicht gefährden, zum Beispiel mit unsinnigen Sparübungen.
Verbessern können wir das Bildungssystem sicher noch in Bezug auf die Chancengleichheit. Es zementiert nämlich eher die soziale Stellung, wie kürzlich eine Studie der beiden Ökonomen Reto Föllmi und Isabel Martinez herausgefunden hat (siehe Artikel im Bund). Wenn wir allen Bevölkerungsschichten, also auch Migranten oder Flüchtlingen, den Zugang zu höherer Bildung gewährleisten können, sichert auch dies den Wohlstand des Mittelstands. Zudem darf die Weiterbildung von der Politik und den Arbeitgebern durchaus noch mehr gefördert werden, denn sie wird für den Mittelstand zunehmend unverzichtbar. Die Fachkräfteinitiative ist ein Beispiel eines guten Instruments dafür.
Nachholbedarf hat unser Land in Bezug auf Steuern und Abgaben sowie Transferzahlungen. Die Steuern müssen für den Mittelstand gerechter ausgestaltet werden. Zweiteinkommen, auf die der Mittelstand heute angewiesen ist, müssen sich lohnen. Nicht zuletzt braucht es eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mehr Kindebetreuungsangebote und Familienzulagen, die spürbar etwas bringen. Sollte sich die Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt zu Ungunsten des Mittelstands verschärfen, so ist ein bedingungsloses Grundeinkommen zu prüfen.
Hansjörg Schmid
Definition des Mittelstands
Der Mittelstand kann auf verschiedene Arten definiert werden. In den Mittelstandsstudien der Angestellten Schweiz wurde unter anderem die Definition verwendet, wonach der Mittelstand jene Schicht ist, die zwischen den 20 Prozent einkommensschwachen und den 20 Prozent einkommensstarken Personen liegt. Der Mittelstand ist so gesehen also immer gleich gross, nämlich 60 Prozent. Den Beiträgen in der Volkswirtschaft 11/2017 liegt eine andere Definition des Bundesamts für Statistik zugrunde. Hier zählen Personen und Haushalte mit Einkommen zwischen 70 Prozent und 150 Prozent des medianen (mittleren) Einkommens zur Mittelklasse. Diese Definition ermöglicht Aussagen über die Grösse des Mittelstandes im Vergleich zum oberen und unteren Stand.