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Das Ende des Mittelstands?

Zwei aktuelle Bücher entwerfen unterschiedliche Visionen, wie sich die Angehörigen des Mittelstands mithilfe der Digitalisierung vor dem drohenden Abstieg retten können.

Die digitale Revolution verändert die Arbeitswelt, die Gesellschaft und die einzelnen Menschen dramatisch und grundlegend. Dies drückt sich aus zum Beispiel in neuen Arbeitsmodellen in der Sharing Economy, in politischen Verwerfungen oder in neuen Herausforderungen durch die Social Media. Sicherheiten, die unser Leben lange geprägt haben, schwinden: die Jobsicherheit, die politische Stabilität und die klare Definition von Freundschaft.

Vielen Menschen machen diese Entwicklungen grosse Angst. Sie fürchten den sozialen Abstieg und wissen nicht, wie sie ihn verhindern können. Da kommen Publikationen wie gerufen, welche die Digitalisierung analysieren, deren Folgen einordnen und Handlungsvorschläge machen. Zwei aktuelle solcher Bücher seien hier gegenübergestellt: „Aufstieg der digitalen Stammesgesellschaft“ von Oliver Fiechter und Philipp Löpfe sowie „Der stille Raub“ von Gerald Hörhan. Bei den Publikationen handelt es nicht um Utopien oder gar Dystopien, sondern um Analysen der aktuellen Entwicklungen. Beide Publikationen legen einen besonderen Fokus auf den Mittelstand.

Das Trilemma der herkömmlichen Gesellschaften

Der Unternehmer Oliver Fiechter und der Journalist Philipp Löpfe konstatieren in ihrer historisch-gesellschaftlichen Analyse bei allen Gesellschaften, die Menschen bisher gebildet haben, ein Defizit. Sie nennen es den Fluch des Trilemmas.

Die Stammesgesellschaft früherer Zeiten basierte auf dem Tausch. „In der Stammesgesellschaft war der Tauschakt der Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhielt“, schreiben die Autoren. Auch Leistungen ohne Preis hatten ihren sozialen Wert. Verzichten mussten diese Gesellschaften allerdings auf Fortschritt und Innovation. „Sie kannten keine individuelle Selbstverwirklichung und hatten – kulturell gesehen – keine Geschichte.“

Später entstanden aus den Stammesgesellschaften hierarchische Gesellschaften. Die extremste Ausformung davon ist die indische Kastengesellschaft. Der „homo hierarchicus“, wie ihn Fiechter und Löpfe nennen, muss auf die Gleichheit der Menschen verzichten. Stattdessen hat er sich „in eine starre Ordnung nicht verhandelbarer und metaphysisch verordneter Pflichten und Ansprüche“ einzufügen.

Die aufgeklärte Gesellschaft ersetzte die hierarchische Ordnung durch die liberale. „Doch auch unsere liberale Gesellschaft muss ihren Preis dafür bezahlen und auf einen zentralen Grundwert verzichten: auf die Gegenseitigkeit“, stellen die Buchautoren fest. Sie wurde in ihrem Verständnis durch ein darwinistisches Auslese- und ökonomisches Leistungsprinzip ersetzt. „‘Survival of the fittest‘ lautet bis heute das oberste Credo unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.“ Möglicherweise nähern wir uns dem Ende dieser Gesellschaft und die Ökonomie hat als übergeordnetes Ordnungsprinzip für die Gesellschaft bald ausgedient.

In der Politik herrsche Stagnation und Resignation, konstatieren die beiden Autoren. „In der Realität zeichnet sich eine neue feudale Ordnung ab“, schreiben Fiechter und Löpfe. An der Spitze würden neue Oligarchen stehen wie Sergey Brin, Larry Page, Peter Thiel oder Tavis Kalanick. Das ist für den Mittelstand eine schlechte Nachricht: „Der breite Mittelstand hingegen, der es nach dem zweiten Weltkrieg zu einem Leben mit gut bezahlten Jobs und sozialer Absicherung gebracht hat, befindet sich im Niedergang. Es entsteht eine neue Klasse von Liebeigenen, Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und mit einem lausigen Mindestlohn über die Runden kommen müssen und banale Dienstleistungen für die wenigen Glücklichen verrichten.“

Das Internet zerstört den Mittelstand

Die digitale Revolution wird wenige reich machen und viele arm, glaubt der Finanz- und Immobilien-Unternehmer Gerald Hörhan, der seine Analyse vor allem aus individueller, unternehmerisch-wirtschaftlicher Sicht macht. „Ein Sturm kommt auf“, schreibt er in seinem Buch, „und er wird die komplette Mittelschicht hinwegfegen“.

Hörhan führt für diese forsche Aussage wirtschaftliche und politische Gründe an. Der Buchautor geht davon aus, dass die Digitalisierung das folgende Prinzip der freien Marktwirtschaft noch massiv verstärken wird: „Der beste gewinnt und mit etwas Glück vielleicht noch der Zweitbeste. Der Drittbeste bekommt eventuell noch einen kleinen Teil des Kuchens und der ganze Rest verliert.“ Dass dem in der digitalen Ökonomie durchaus so ist, zeigen Beispiele wie Apple, Airbnb oder Google deutlich. Es entsteht keine Vielzahl von Anbietern, sondern es bilden sich Monopole und Oligopole.

Als Folge dieser Entwicklung sagt Hörhan ein starkes Sinken der Steuereinnahmen voraus: International tätige Unternehmen würden versuchen, so wenige Steuern wie möglich zu zahlen. „Staaten, die sich aus falschen volkswirtschaftlichen Erwägungen oder aufgrund politischer Hindernisse nicht an die digitale Wirtschaft anpassen wollen oder können, verlieren mit der digitalen Revolution deshalb grosse Teile ihrer Steuerbasis„, schreibt Hörhan. Der Oberschicht sei dies ziemlich egal. Die Mittelschicht hingegen werde stark getroffen, denn vor allem sie profitiere von kostenlosen staatlichen Leistungen wie den Bildungseinrichtungen, der Gesundheitsversorgung oder dem geförderten Kulturbetrieb. Die einbrechenden Einnahmen kämen zudem zum ungünstigsten Zeitpunkt, „weil mit dem wegbrechenden Jobs ständig mehr Bürger Sozialleistungen benötigen werden“. Gerald Hörhan erwartet, dass es auf der Welt einige Regionen geben wird, die gewinnen und viele, die verlieren. Eine Chance sieht er für Standorte, wo es Eliteunis, viele Startups und wenig Regulierung gibt. Die Schweiz wäre demnach nicht so schlecht aufgestellt, ob wir aber gegen das viel potentere Silicon Valley oder die chinesischen Innovationsstädte (vgl. dazu Apunto 1/2017, Seiten 8-9) bestehen können, wird sich weisen müssen.

Unterschiedliche Rezepte

So unterschiedlich die Analysen von Fiechter/Löpfe und Hörhan vom Ansatz her sind, in einem Punkt kommen sie zum selben Schluss: Auf den Mittelstand kommen harte Zeiten zu. Was dagegen getan werden kann und soll, da sehen die Rezepte der Buchautoren aber grundsätzlich anders aus.

Gerald Hörhan glaubt wenig an die Zukunft der Politik. Er zählt drei Gründe auf, warum sich das Kräfteverhältnis zugunsten der digitalen Eliten verschieben werde:

  • Politische Apparate ziehen Bürokraten an, keine Innovatoren.

  • Die politische Diskussion ignoriert das Problem (was auch für Gewerkschaften gilt).

  • Die politischen Apparate schwächen sich durch falsche Massnahmen selber (gemeint sind „Regulierungen gegen das Unaufhaltsame“ oder „populistische Reflexe“).

Was es stattdessen brauche sei eine Anpassung und Anwendung der Gesetze gegen die Bildung von Monopolen, ein Abfangen der kommenden Massenarbeitslosigkeit, das Einrichten von Thinktanks der Digitalisierung und das Einsetzen einer Ethikkommission.

Gerald Hörhan sieht ein heftiges Aufeinanderprallen der politischen und der digitalen Elite auf uns zukommen. Er möchte sich nicht auf die Politik verlassen und empfiehlt deshalb den Einzelnen, das Heft selber in die Hand zu nehmen und sich eine digitale Präsenz und Existenz aufzubauen. „Innerhalb der digitalen Welt entstehen neue Branchen, die künftig dringend neue Mitarbeiter benötigen“, schreibt der Unternehmer. Einige wirkten noch exotisch, andere erforderten klassische Qualifikationen wie Mathematik, Rechtswissenschaften, Medizin oder Biologie. Jeder, der bereit sei, ins kalte Wasser zu springen, finde aber eine „Chance zum Aufstieg“.

Fiechter und Löpfe setzen bei ihrer Vision nicht wie Hörhan beim Individuum, sondern bei der Transformation der Gesellschaft an: „Die grosse Transformation zu einer digitalen Stammesgesellschaft […] ist eine Gesellschaft, in welcher der technische Fortschritt im Dienst von inklusiven Institutionen und gesellschaftlichen Mechanismen steht, die dem Gemeinwohl dienen.“ Mit dieser Transformation hin zu einer „Wirtschaft, die auf Tausch beruht und den zerstörerischen Wachstumszwang beendet“, glauben sie, das Trilemma überwinden zu können.

Die Autoren sind sich bewusst, dass eine echte digitale Tauschgesellschaft nicht schlagartig entstehen wird. Sie geben sich aber überzeugt, dass der Kampf „zu gewinnen“ ist. Das Buch „Aufstieg der digitalen Stammesgesellschaft“ klingt denn auch optimistischen aus: „Solche eine Wirtschaftsordnung wird die Grundlage für eine Gesellschaft bilden, die erkannt hat, dass es ihr dank der digitalen Technik möglich ist, alle drei humanen Grundbedürfnisse – die Gleichheit, die Gegenseitigkeit und den Fortschritt – zu integrieren und sie für ihr wirtschaftliches und soziales Wohl einzusetzen.“

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Vision von Oliver Fiechter und Philipp Löpfe erfüllen wird, denn nicht alle Menschen werden in der Lage sein, sich aus eigener Kraft in der digitalen Welt zu behaupten.

Hansjörg Schmid

Dienstag, 23. Mai 2017

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Aufstieg der digitalen Stammesgesellschaft

Aufstieg der digitalen Stammesgesellschaft. Die neue grosse Transformation, Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Oliver Fiechter ist Unternehmer, Kolumnist und Buchautor. Er zählt zu den Vordenkern der Ökonomie 3.0.

Philipp Löpfe arbeitet als Autor für das Onlineportal watson.ch. Zuvor war er Chefredaktor des Tages Anzeigers und des Sonntagsblicks.

Der stille Raub

Der stille Raub. Wie das Internet die Mittelschicht zerstört und was Gewinner der digitalen Revolution anders machen.

Gerald Hörhan ist Eigentümer und Vorstand eines international tätigen Corporate-Finance-Unternehmens, Immobilien-Investor und betreibt eine Online-Akademie für Wirtschaftsthemen.

Lesen Sie zum Thema Mittelstand und Digitalisierung

>> Apunto 3/2016: Industrie 4.0

>> Apunto 1/2015: Die digitale Revolution

>> Apunto 6/2013: Mittelstand: neue Studie

>> Industrie 4.0 in der Schweiz auf Kurs

>> Jobs automatisieren statt verlagern

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