Gender Shift
Das Ende des Geschlechterk(r)ampfs
Wir orientieren uns immer weniger am Geschlecht – es verliert zunehmend an gesellschaftlicher Verbindlichkeit. Was bedeutet dies für die Gesellschaft, die Wirtschaft und für meine Selbstverwirklichung als Mensch?

Als meine Schwägerin vor einigen Jahrzehnten die Führung eines Bauernhofs übernahm, galt eine Frau in dieser Rolle noch als etwas Besonderes. Als sich die Tochter von Freunden kürzlich bei einem Bauunternehmen als Lastwagenfahrerin bewarb, erhielt sie den Job ganz selbstverständlich. Niemand stellte in Frage, dass Frauen Lastwagen lenken können. Alina fühlt sich in ihrem Berufsumfeld pudelwohl und ist von ihren Kollegen vollständig akzeptiert.
Das Beispiel zeigt: Die Frauen sind in den bisherigen «Männerberufen» angekommen. In diversen Berufsfeldern, die noch vor nicht allzu langer Zeit von Männern beherrscht wurden, stossen heute sogar mehr Frauen als Männer nach. Ein eindrückliches Beispiel sind Ärztinnen. An den Schulen sind Lehrer bereits Mangelware.
Der zunehmende Erfolg der Frauen in hoch qualifizierten Berufsfeldern erklärt sich unter anderem daraus, dass sich Frauen heute tendenziell höher bilden als Männer. Dazu beigetragen hat aber auch, dass in der Arbeitswelt Werte wie Empathie, Freundschaft, Toleranz oder Familiensinn, die man vor allem den Frauen zuschreibt, eine grössere Rolle spielen. Und schliesslich verabschieden wir uns mehr und mehr vom traditionellen Rollenmodell und Kinderbetreuungsangebote ermöglichen es Müttern, berufstätig zu bleiben.
Die Frauen haben sich stark bewegt – tun es auch die Männer? Eher weniger, ein Run von Männern auf «Frauenberufe» wie Pflege oder Service ist nicht zu beobachten. Ein Grund dafür ist sicher, dass die Löhne in den entsprechenden Branchen tief sind. Aber viele Männer sind wohl immer noch der alten Rolle verhaftet.
Vom Female Shift zum Gender Shift
Der Fachbegriff für den Wandel hin zu einer weiblicheren Arbeitswelt heisst «Female Shift» (Verschiebung hin zum Weiblichen). Die Entwicklung wird aber nicht dort stehenbleiben, wo Frau und Mann völlige Gleichberechtigung erreicht haben. Das Geschlecht an und für sich ist nämlich einem höchst erstaunlichen Wandel unterworfen, der weitreichende Folgen für die Gesellschaft und Wirtschaft nach sich ziehen wird. Statt nur den Female Shift betrachten und analysieren wir im Folgenden darum generell den «Gender Shift» (Verschiebung der Bedeutung der Geschlechter).
Das vom einflussreichen deutschen Zukunftsforscher Matthias Horx gegründete Zukunftsinstitut hat vier Thesen zum Megatrend Gender Shift aufgestellt:
- Geschlechterrollen verlieren ihre soziale Relevanz. Menschen legen ihre Geschlechterrollen zunehmend ab, Familienstrukturen ändern sich.
- Diversität wird Normalität. Frauen drängen in Führungspositionen, «toxische Männlichkeit» wird verurteilt, Männer verlieren an Bedeutung und Macht. Diversität in Wirtschaft und Politik wird zum wichtigen Wert.
- Gender Awareness (Gender-Bewusstsein) wird zum obersten Gebot. Gender Blind Spots (blinde Flecken) und Gender Bias (Bevorzugung von Männern) werden zunehmend aufgedeckt und beseitigt. Auf dem Weg zu geschlechtergerechten und -übergreifenden Ansätzen erhöht sich die Gendersensibilität.
- Identitäten definieren sich jenseits von Geschlecht. Das Denken und Handeln der jüngeren Generationen verändern die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschlecht. Angebote und Kommunikation müssen sich anpassen.
Die ersten beiden Entwicklungen sind, zumindest in der westlichen Welt, schon weit fortgeschritten. Aber in allen Weltregionen fordern immer mehr Frauen gleiche Rechte und Selbstbestimmung. Konservative Kreise lehnen sich gegen solche Entwicklungen auf und es kommt zu Rückschlägen, wie jüngst in Afghanistan, wo die Frauen viele Rechte wieder eingebüsst haben. In Russland und Ungarn werden Homosexuelle gerade wieder stark diskriminiert. Auf der anderen Seite haben wir in der Schweiz mit dem klaren Ja zur «Ehe für alle» gerade einen grossen Schritt nach vorne getan.
Das Geschlecht wird weniger wichtig – und gleichzeitig wichtiger
Schwindet die Bedeutung des Geschlechts in Bezug auf die Geschlechterrollen und die Identität, so bekommt es eine stärkere Bedeutung, was Diversity und Gender Awareness angeht. Dies zu erkennen ist essenziell, wenn man verstehen will, wie die moderne Gesellschaft tickt. Man sitzt nämlich einem Missverständnis auf, wenn man glaubt, das Geschlecht spiele einfach immer weniger eine Rolle. Es spielt vielmehr eine andere Rolle. An einem Beispiel veranschaulicht heisst das: Es ist zwar völlig egal, ob eine Frau oder ein Mann den Lastwagen fährt, aber es kommt sehr wohl darauf an, wie divers das Team und die Führung im Betrieb zusammengesetzt sind und ob es zur Übervorteilung bestimmter Gruppen kommt.
Manche mögen es nervig finden, wenn gewisse Kreise mehr Frauen in der Führung und in der Politik, gleiche Rechte und mehr Sichtbarkeit für Menschen aus der LGBTQ+-Community oder eine genderneutrale Sprache einfordern – aber diese Forderungen sprechen genau die Punkte Diversity und Gender Awareness an und holen damit den Megatrend Gender Shift ab. Aufhalten wird er sich kaum mehr lassen, also lässt man sich besser darauf ein.
Wahlmöglichkeiten nutzen
Statt zu jammern, nutzen wir also die Chancen des Gender Shift. «Der Megatrend Gender Shift schafft neue Märkte», schreibt das Zukunftsinstitut. Das sind gute News für die Wirtschaft. Aber noch mehr von dieser Entwicklung haben wir als einzelne Individuen: Uns tun sich unzählige neue Gelegenheiten auf, uns zu verwirklichen. Wir haben nämlich viel mehr Wahlmöglichkeiten in Bezug auf das Familienmodell, die Arbeit, die Karriere, das Engagement in der Öffentlichkeit, die Work-Life-Balance usw. Der Trend geht sogar schon so weit, dass manche mit ihrer Geschlechteridentität frei zu experimentieren begonnen haben (Stichwort «Identity Design»).
Die Männer tun sich vermutlich mit dem Gender Shift schwerer als die Frauen. Letztere haben schliesslich in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts den Female Shift angestossen und gelernt, mit den damit verbundenen erhöhten und erweiterten Anforderungen umzugehen. Die Männer müssen jetzt nachziehen und die Lernkurve ebenfalls kriegen.
«Geschlecht wird in Zukunft kein Schicksal mehr sein, das bei Geburt schon festgelegt ist, sondern ein weites Feld für individuelle Vorlieben und unterschiedliche Lebensphasen.» Dies erwarten die Zukunftsforscher des Zukunftsinstituts. Das Geschlecht legt nicht mehr fest, wer in der Gesellschaft Macht hat und wer nicht. Die individuelle Leistung entscheidet darüber, in welcher Position sich die/der Einzelne befindet – nicht der Körper oder die sexuellen Vorlieben. Damit wird der Kampf der Geschlechter (hoffentlich!) ein Ende finden und wir können alle gemeinsam die echten Probleme (Klimawandel, Hunger, Pandemien…) anpacken, vor denen die Menschheit steht. Die Angestellten Schweiz sind bereit – Sie auch?
Hansjörg Schmid
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