Wenn man die Wirtschaft verteidigen will, greift man die Sozialpartnerschaft nicht an!
Im Widerstand gegen die Personenfreizügigkeit richten die Funktionäre der SVP ihre Kritik nicht mehr nur gegen die flankierenden Maßnahmen, sondern sogar auch gegen die Gesamtarbeitsverträge an sich. Sie greifen damit in sinnloser Weise den Arbeitsfrieden und die wirtschaftliche und soziale Stabilität der Schweiz an, welche die Grundlage für deren Wohlstand bilden.

Wir haben das Recht, eine kritische Debatte über die Personenfreizügigkeit mit ihren Vor- und Nachteilen zu führen. Schließlich handelt es sich um eine recht junge Entwicklung unseres Rechts, und das 2001 zwischen der Schweiz und der Europäischen Union geschlossene Abkommen hat grössere Auswirkungen gehabt als ursprünglich angenommen. Selbst die Befürworter der Personenfreizügigkeit gestehen ein, dass diese Debatte zu führen ist. Doch darf nicht hingenommen werden, dass die Kritik zu einem Angriff auf die Sozialpartnerschaft und den Arbeitsfrieden in der Schweiz verkommt.
Die Sozialpartnerschaft macht die Personenfreizügigkeit erst akzeptabel
Die einzige Verbindung zwischen der Sozialpartnerschaft und der Personenfreizügigkeit besteht darin, dass erstere die Risiken der letzteren herabsetzt, indem sie den Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen im Allgemeinen begrenzt. Die Sozialpartnerschaft ist jedoch tief und nachhaltig im Funktionieren der Schweizer Wirtschaft verwurzelt – weit mehr als die Personenfreizügigkeit. Sie ist das Vermächtnis einer seit mindestens einem dreiviertel Jahrhundert gelebten Praxis, während der sie Zeit hatte, Früchte zu tragen: gute Früchte, mit einer gesunden, aber auch harmonischen Wirtschaft.
Gestützt auf die bewährten Instrumente der Gesamtarbeitsverträge (GAV) gewährleistet die Sozialpartnerschaft eine gewisse Kohärenz der Arbeitsbedingungen innerhalb derselben Branche auf der Grundlage von Entscheidungen, welche von den Akteuren der Branche selber getroffen werden. Dadurch wird vermieden, dass diese Bedingungen zu sehr unter der Konkurrenz der Unternehmen leiden. Die Sozialpartnerschaft macht diesen Wettbewerb annehmbar, so wie sie die Personenfreizügigkeit seit rund 15 Jahren akzeptabel gestaltet, indem sie verhindert, dass die zugewanderten europäischen Arbeitnehmer die Löhne in missbräuchlicher Weise nach unten treiben.
Die SVP nimmt an den Fortschritten der Sozialpartnerschaft Anstoss
Diese kurze Auffrischung kann für die Funktionäre der SVP von Nutzen sein, deren jüngste Äußerungen darauf hindeuten, dass sie mit dem Funktionieren der Schweizer Wirtschaft nicht so recht vertraut sind. Diese Partei hat ihre Kritik mit der Lancierung einer neuen Initiative gegen die Personenfreizügigkeit in der Tat nicht mehr nur gegen die flankierenden Maßnahmen gerichtet – welche die Möglichkeit vorsehen, bestimmte GAV einfacher allgemeinverbindlich zu erklären – sondern auch gegen die Gesamtarbeitsverträge an sich, sowie gegen die Gewerkschaften und die Berufsverbände, welche bald als Opfer von Gewerkschaftsdiktaten dargestellt werden, bald als Nutznießer der „Millionen“, welche die GAV abwerfen.
Die SVP nimmt daran Anstoss, dass sich die Anzahl der GAV in der Schweiz seit 2001 mehr als verdoppelt hat, so dass heute „jeder zweite Arbeitnehmer einem Gesamtarbeitsvertrag untersteht, jeder dritte einer Mindestlohnregelung und jeder vierte einem branchenverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag“. Wo man sich an den Fortschritten der Sozialpartnerschaft erfreuen könnte, sieht die SVP nichts anderes als einen Angriff auf einen "liberalen Arbeitsmarkt". Frau Martullo-Blocher versteigt sich sogar darauf zu behaupten, dass flächendeckende GAV „explizit dem Willen des Schweizer Stimmvolkes widersprechen“! Sie beruft sich dafür auf die Volksentscheidung vor einigen Jahren, die beiden Gewerkschaftsinitiativen abzulehnen, welche einen gesetzlichen Mindestlohn in der Schweiz und sechs Wochen Ferien für alle forderten. Dieses Argument ist absurd, denn die Ablehnung dieser beiden Initiativen basierte ja gerade darauf, dass Mindestlöhne und Ferienansprüche individuell in Branchenverträgen geregelt werden sollten.
Stabile Gesellschaftsordnung statt Klassenkampf!
Die Sozialpartnerschaft wird oft von der extremen Linken angegriffen, die es vorzöge, den Klassenkampf wiederzubeleben, in der Hoffnung, eine Diktatur des Proletariats durchzusetzen. Heute wird sie aber auch mit ebenso viel Virulenz von der ultraliberalen Ideologie angegriffen, welche sich am Individualismus und damit weniger an menschlichen Gemeinschaften – politisch, wirtschaftlich oder familiär – orientiert. Aber diese Ideologien sind, wie alle Ideologien, Trägerinnen von Unordnung und Instabilität. Der Wohlstand der Schweizer Wirtschaft basiert jedoch in hohem Masse auf einer stabilen sozialen und politischen Ordnung, die insbesondere mit dem Arbeitsfrieden und einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Forderungen von Gewerkschaften und Arbeitgebern verbunden ist.
In diesem Sinne ist es falsch zu behaupten, die Gewerkschaften seien die „Gewinner“ der gegenwärtigen Situation. GAV werden nicht aufgezwungen, sondern verhandelt. Und wenn ein GAV auf eine ganze Branche ausgeweitet wird, sind die Gewinner an erster Stelle jene Arbeitgeber, welche das Spiel der Sozialpartnerschaft mitspielen und nicht gegenüber diejenigen benachteiligt sein wollen, welche jegliche Form der Unternehmenssolidarität ablehnen. Aus diesem Grund weist das Centre Patronal in voller Kenntnis der Hintergründe die Angriffe auf Gesamtarbeitsverträge zurück und fordert stattdessen, unter bestimmten Voraussetzungen, die Möglichkeit der Erleichterung einer Allgemeinverbindlicherklärung.
Pierre-Gabriel Bieri, Sekretär Centre Patronal
Übersetzung: Markus Hugentobler
Quelle: Presse- und Informationsdienst Centre Patronal. Wöchentliche Publikation – Verantwortlicher Redaktor: P.-G. Bieri, Centre Patronal. Artikel publiziert am 7. Februar 2018 (Nr. 2265)
Das Centre patronal
Das Centre Patronal ist eine Wirtschaftsorganisation im Dienst der Unternehmung. Nebst der Führung des Sekretariats des Waadtländischen Arbeitgeberverbandes (Fédération patronale vaudoise) betreut es über 150 Berufsverbände- und organisationen. Ungefähr 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nehmen die gleichen Aufgaben wahr wie das Centre Patronal in Bern, nämlich Politik, Information und Beratung, Verbandsmanagement und die Berufsbildung.
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