Fragen und Herausforderungen der Familienpolitik
Die Familienpolitik verändert sich – sie ist weder fix, noch unveränderlich. Allerdings verläuft ihre Entwicklung langsam, entgegen der Geschwindigkeit der manchmal brutalen Transformation der Gesellschaft, die einige als 4.0 bezeichnen. In diesem Artikel versuchen wir, die Herausforderungen und zukünftigen familienpolitischen Entwicklungen in der Schweiz zu identifizieren. Die Veränderungen werden unweigerlich eintreten – wie schnell, wissen wir jedoch nicht.
Rufen wir uns einige Fakten unseres Landes in Erinnerung, die einen Einfluss auf die Familienpolitik haben: In der Schweiz ist die Arbeitslosenquote niedrig. Darüber hinaus herrscht auf dem Arbeitsmarkt ein Fachkräftemangel, der auch in Zukunft bestehen wird. Frauen studieren heute genauso oft wie Männer und die meisten von ihnen wollen eine berufliche Tätigkeit ausüben. Für die jüngere Generation hat die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben hohe Priorität. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Die Rentnerinnen und Rentner sind gesünder. Infolgedessen altert die Bevölkerung, und dieses Phänomen verstärkt sich. Der Begriff der „Familie“ hat sich verändert. Auch wenn das Zusammenleben von Mann und Frau mit Kindern nach wie vor das verbreitetste Familienmodell ist, entstehen neue Formen von Lebensgemeinschaften: Alleinerziehende Familien, Patchwork-Familien, Regenbogenfamilien usw. Trotz dieser unterschiedlichen Konstellationen ist die häufigste Haushaltsform heutzutage der Einpersonenhaushalt (BFS, 2018).
Staat muss Bedeutung der Familie anerkennen
Des Weiteren möchten wir auf ein Problem hinweisen, das unserer Meinung nach niemandem am Herzen liegt: Die demographische Erneuerung der Gesellschaft. Gegenwärtig sorgt die Schweiz mit einer Geburtenrate von 1,5 (wie alle westlichen Länder) nicht für die Erneuerung der Generationen, was auch politische Probleme mit sich bringen wird, wenn es darum geht, (bereits heute knapper werdende) Fachkräfte zu finden.
Wenn wir glauben, dass die Familie der wichtigste Pfeiler unserer Gesellschaft ist und bleibt, dann muss der Staat deren Bedeutung (die heute keine Priorität hat) verstärkt anerkennen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die es jeder Frau und jedem Mann ermöglichen, frei zu entscheiden, wie sie sich als Eltern organisieren wollen. Dies kann auf unterschiedliche Art und Weise gefördert werden:
- Ein Ausbau / eine Weiterentwicklung von Kindertagesstätten
- Eine Adaption der Schulstrukturen, damit Eltern ihre berufliche Tätigkeit einfacher ausüben können
- Eine Besteuerung, die Familien nicht benachteiligt
- Ergänzungsleistungen für benachteiligte Familien (nur vier Kantone – Solothurn, Tessin, Waadt und Genf – bieten diese heute an)
- Ein Urlaub für die Pflege von Angehörigen (für schwerkranke oder verletzte Kinder – ein Bundesprojekt ist in der Vernehmlassung)
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird nur dann erfolgreich sein, wenn sich die Rollenbilder und Einstellungen in der Gesellschaft ändern. Heute sind wir in Stereotypen gefangen, die tief in unserem Kopf verwurzelt sind (z.B. ist es für viele Menschen unvorstellbar, dass sich eine Frau nicht um ihre Kinder kümmert und Vollzeit arbeitet; Männer müssen das "Überleben" des Haushalts sichern, etc.).
Eine weitere Herausforderung – die wir für wichtig halten und die in den kommenden Jahren gelöst werden muss – wird die Familienarmut sein. Sie wird verstärkt durch eine hohe Scheidungsrate (41% in der Schweiz), eine Abnahme der Familienunterstützung durch die Grosseltern nach einer Scheidung (während einer Scheidung nimmt der Kontakt der Enkelkinder meist zu den Grosseltern väterlicherseits ab), sowie einen Kostenanstieg für die Familien (z.B. Krankenkassenprämien).
Solidarität zwischen den Generationen überdenken
Unsere Gesellschaft ist auch durch neue Kommunikationsformen gekennzeichnet, die aus der Nutzung sozialer Medien und Netzwerke resultieren. Daher bleibt die kontinuierliche Weiterbildung von Eltern und Grosseltern – zum Erlernen neuer Kommunikationsmittel – eine wesentliche Herausforderung, um die Bindung mit der bzw. die Integration in die Gesellschaft zu stärken.
Infolge der Überalterung der Bevölkerung müssen die Solidarität zwischen den Generationen und die neuen Rollen der Familienmitglieder überdacht werden. Mit der steigenden Lebenserwartung leben heute meist vier – manchmal sogar fünf – Generationen zusammen. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage der pflegebedürftigen Eltern überdacht werden. Wie kann man sich – neben der Berufstätigkeit – aktiv darauf vorbereiten? Wie können wir die Rentner besser in unsere Gesellschaft integrieren, wenn wir berücksichtigen, dass ihre Lebenserwartung noch mehr als 20 Jahre beträgt? Wir sind überzeugt, dass Rentnerinnen und Rentner in Zukunft eine aktivere Rolle spielen werden.
Schliesslich ist anzumerken, dass wir es für wichtig erachten, das Familien- und Erbrecht anzupassen und zu modernisieren. Wir sind daher der Meinung, dass das heute durch Pflichtteile eingeschränkte Erbrecht dem zukünftigen Erblasser mehr Freiheit geben sollte, sein Vermögen übertragen zu können, an wen immer er möchte (z.B. an seine Enkelkinder).
Dr. Philippe Gnaegi, Direktor von Pro Familia Schweiz - Dozent an der Universität Freiburg