Work-Life-Blending gefährdet die Work-Life-Balance
Neue Arbeitsformen bringen die Gefahr mit sich, dass Arbeit und Freizeit immer mehr verschmelzen. Professor Christian Scholz warnt vor den Folgen und macht einen Gegenentwurf.

Ich sitze im Citizen Space an der Heinrichstrasse in Zürich, als ich diesen Text beginne. Das ist ein Coworking-Space. Ich arbeite hier, weil ich mir so eine Zugfahrt nach Olten erspare und in der Nähe meines nächsten Termins bin.
Arbeiten im Coworking-Space ist eine neue Arbeitsform, die stark im Kommen ist (siehe dazu den Artikel "Coworking – so arbeitet man heute immer öfter"). Sie hat Vorteile für die Angestellten wie für die Arbeitgeber. Darum unterstützen die Angestellten Schweiz im Rahmen der Work-Smart-Initiative solche Arbeitsformen.
Im Citizen Space habe ich eine gute Infrastruktur zur Verfügung und eine nette Arbeitsumgebung – ich fühle mich wohl und entspannt. Müsste ich in einem überfüllten Zug an diesem Artikel schreiben, fände ich dies unangenehm und stressig.
Wer profitiert?
Neue Arbeitsformen wie Coworking, Desksharing oder Home Office, die dank der Digitalisierung jederzeit möglich geworden sind, gestatten eine totale Flexibilisierung der Arbeit. Man kann arbeiten, wann und wo man ist. Oder man muss. Für die Angestellten ist dies entscheidend. „Denn es ist ein gravierender Unterschied, ob wir von einer arbeitnehmerseitigen Flexibilisierungsmöglichkeit oder einer arbeitgeberseitigen Flexibilisierungsforderung sprechen. Im ersten Fall habe ich die Chance zur Flexibilisierung und kann mir überlegen, wann, wo und wie ich arbeite. Im zweiten Fall verlangt der Arbeitgeber, dass ich mich flexibel verhalte, also alle seine Forderungen bezüglich wann, wo und wie erfülle.“ Dies schreibt Professor Dr. Christian Scholz in seinem Buch „Mogelpackung Work-Life-Blending“. Scholz lehrt an der Universität des Saarlandes Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisation, Personal- und Informationsmanagement. Im Buch warnt er vor den vielen negativen Folgen, welche die Vermischung von Arbeit und Freizeit haben kann (siehe Kasten). Er macht kein Geheimnis daraus, dass er die Flexibilisierung vor allem als von den Arbeitgebern getrieben sieht. Die Manager hat er im Verdacht, dass es ihnen nicht in erster Linie um die Flexibilität der Angestellten gehe, sondern darum, sie auszubeuten. „Wir haben den mechanischen Taylorismus abgeschafft, um ihn durch den digitalen Taylorismus zu ersetzen“, stellt er bitter fest.
Scholz findet, dass gewisse Arbeitgeber (wie die Deutsche Telekom oder Daimler, die er im Buch als Beispiel aufführt) den Angestellten die Flexibilisierung der Arbeit unterjubeln wollten, ohne dass diese sie wirklich wollten. Sie werde ihnen mit positiv klingenden Begriffen sehr geschickt verkauft. Deshalb nennt er das Work-Life-Blending eine Mogelpackung.
Die Generation Z will Arbeit und Freizeit eher trennen
Für die Generation Z sind die reale und die virtuelle oder digitale Welt praktisch eins – sie sind komplett verschmolzen. Interessant ist, dass gerade diese Generation aber Arbeit und Freizeit eher wieder trennen will.Sie „strebt nach einem optimalen Mix aus Arbeitsleben und Freizeit“, steht zum Beispiel auf der Website der Personalagentur „Junges Herz“.
„Überschaubarkeit, Struktur, das eigene Büro mit zwei, drei engen Kollegen, Zimmerpflanze und Teetasse auf dem Tisch, dazu Fotos von Freund oder Freundin.“ So beschreibt Christian Scholz das Arbeitsidyll der Generation Z. Und schliesst daraus: „Ideen wie flexible Arbeitsplätze und Grossraumbüros gehen nicht nur an dieser Generation vorbei, sondern stossen zwangsläufig auf Ablehnung.“ Der Professor empfiehlt den Arbeitgebern, auf die Bedürfnisse der Generation Z Rücksicht zu nehmen, denn sonst seien sie gleich wieder aus dem Betrieb weg. Eine starke Bindung zu einem Arbeitgeber hätten die Angehörigen dieser Generation nämlich nicht. Schliesslich hätten sie mitansehen müssen, wie die Generation ihrer Eltern von den Arbeitgebern vor die Tür gestellt wurde.
Eine Heimat schaffen
Statt einer Arbeitswelt, in der Schreibtische Mangelware und stets leergeräumt sind, schwebt Christian Scholz eine vor, die so etwas wie eine Zweitwohnung ist. In der Arbeitsumgebung sollen sich die Menschen wohl fühlen, darum soll sie nicht abweisend und kalt gestaltet sein. Sondern eben genau dem Idyll entsprechen, das die Generation Z vor Augen hat. Ebenso wichtig ist für Scholz eine klare Trennung von Arbeit und Freizeit.
Der Professor listet im Buch eine Reihe von Massnahmen auf, wie dies erreicht werden kann. Die wichtigsten sind:
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Die Fabriken sollen wieder zurück in die Städte geholt werden. Damit verkürzen sich die Arbeitswege.
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Dem gleichen Ziel dienen Coworking-Spaces. Scholz zieht diese dem Home-Office vor, weil sie eine klare Trennung von Arbeits- und Privatleben ermöglichen.
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Arbeitszeiten sollen sich nach dem Takt des Familienlebens richten – so, wie es in Skandinavien praktiziert wird. Die Arbeitszeitsouveränität soll weitgehend bei den Angestellten liegen.
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Das Privatleben soll nicht allzu stark an den Arbeitsort verlegt werden, wie es zum Beispiel bei Google geschieht. Firmenkindergärten oder Werkswohnungen führten zu weit.
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Die Arbeitsorte sollen architektonisch kreativ und menschenfreundlich ausgestattet werden. Statt Grossraumbüros soll es kleinere, nicht einheitliche Räume geben, die individuell gestaltbar sein sollen.
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Humanität soll in den Unternehmen die Leitidee sein.
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Ein Chief Happiness Officer soll dafür sorgen, dass die Angestellten möglichst glücklich arbeiten können. Es brauche aber „definitiv keine Glücksbeauftragten, die nur deshalb zum Einsatz kommen, weil wir die Menschen mit Work-Life-Blending unglücklich machen“.
Professor Scholz geht aber noch einen Schritt weiter und stellt die Zweiteilung des Lebens in Arbeit und (dem Konsum gewidmete) Freizeit in Frage. Er schlägt einen dritten Bereich vor, den er „dritte Säule“ nennt. In dieser sollen die Menschen einer Berufung nachgehen können, ohne dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. So neu ist diese Idee nicht, viele Menschen sind ja ehrenamtlich für alle möglichen Zwecke aktiv oder frönen einem Hobby, das nicht konsumorientiert ist. Um die Existenz in jedem Fall zu sichern, schlägt Scholz vor, über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken – und liegt damit ganz auf der Linie der Angestellten Schweiz.
Flexible Arbeitsformen müssen für beide Seiten von Vorteil sein
Neue, flexible Arbeitsformen müssen nicht schlecht sein. Aber sie müssen beiden Seiten nützen. Damit sie für die Angestellten nicht zum Nachteil werden, müssen für aus Sicht der Angestellten Schweiz die folgenden Bedingungen erfüllt sein:
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Flexibilität muss für beide gelten.
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Die Entscheidung muss weitgehend bei den Angestellten liegen.
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Work-Life-Blending muss freiwillig sein.
Ich persönlich finde es sehr praktisch, bei Gelegenheit in einem Coworking-Space arbeiten zu können. Allerdings darf es dort für mich nicht allzu turbulent zu und hergehen. Um konzentriert arbeiten zu können, habe ich lieber Einzelbüro- als Grossraumbüro-Atmosphäre. Auf der anderen Seite schätze ich auch meinen eigenen Schreibtisch, die Unordnung und die Pflanze dort drauf, meine eigene Teetasse und vor allem die regelmässige Gesellschaft meiner Arbeitskollegen.
Da ich von den Vorteilen beider Arbeitsformen profitieren kann, ist das Modell, wie es die Angestellten Schweiz für ihre Mitarbeitenden anbieten (Coworking möglich, aber ich kann selber entscheiden, wie und wann), perfekt für mich.
Hansjörg Schmid
Negative Auswirkungen des Work-Life-Blending
Wenn man die ganze wache Zeit ganz oder halb am Arbeiten ist, hat dies unweigerlich Folgen. Man ist nicht nur für die Familie und Freunde nur halb anwesend und ansprechbar, man findet auch keine Ruhe und wird über Gebühr gestresst. Entspannung, Erholung und Schlaf fallen schwer oder werden gar unmöglich. Dadurch steigt die Gefahr markant, dass man krank wird – im schlimmsten Fall ernsthaft.
Zum Buch

Christian Scholz: Mogelpackung Work-Life-Blending. Warum dieses Arbeitsmodell gefährlich ist und welchen Gegenentwurf wir brauchen. Wiley Verlag, www.wiley-vch.de