Zusammenarbeit Schweiz-China in Arbeits- und Beschäftigungsfragen
„Wir wollen keine Lektionen erteilen, sondern gutes Beispiel sein“
Gute Arbeitsbedingungen, hohe Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz, faire Löhne, Arbeitsfriede: Das sind Errungenschaften der Schweizer Sozialpartnerschaft, von denen die Angestellten genauso profitieren wie die Arbeitgeber. Mittels einer Zusammenarbeit will das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) gute Arbeitsbedingungen und Unternehmenserfolg auch in China fördern. Wie das konkret umgesetzt wird und welche Erfolge sich schon eingestellt haben, erklären Botschafter Jean-Jaques Elmiger, Valérie Berset (Stellvertretende Leiterin internationale Arbeitsfragen) und Karin Federer (Wissenschaftliche Mitarbeiterin für internationale Arbeitsfragen) im Interview.

Die Schweiz hat mit China ein Freihandelsabkommen abgeschlossen und in diesem Zuge auch zwei Abkommen über eine Zusammenarbeit in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. Wie stark kann die Schweiz damit Einfluss nehmen auf die Arbeitsbedingungen in China?
Karin Federer (KF): China ist sich sehr bewusst, wo die Herausforderungen im Arbeitsmarkt liegen. Das Land hat zum Beispiel eine grosse Diskrepanz zwischen den Anforderungen an die Angestellten und deren Kompetenzen, es hat eine alternde Bevölkerung, es muss sich mit Streiks herumschlagen und es weiss, dass es produktiver werden muss. Darum ist China sehr interessiert an den Erfahrungen anderer Länder. Die Schweiz kann ihre Erfahrungen einbringen. Wir haben eine produktive Wirtschaft und Arbeitsfrieden. Die Schweiz ist als kleines Land, das keine versteckte Agenda hat, ein geschätzter Partner der Chinesen.
Botschafter Jean-Jaques Elmiger (JE): Vergessen wir nicht, dass wir seit mehr als 60 Jahren diplomatische Beziehungen mit China pflegen. Die Schweiz gehörte zu den ersten Ländern, die den Staat China in seiner jetzigen Form anerkannten. Das macht die Partnerschaft zuverlässig. Ich möchte betonen, dass es nicht unsere Rolle ist, China Lektionen zu erteilen. Wir wollen vielmehr zeigen, was bei uns funktioniert, ein gutes Beispiel sein. Die chinesischen Autoritäten sind sehr offen dafür. Das beste Beispiel ist eine Mission, die wir im letzten Jahr durchgeführt haben. Wir besuchten mit einer Delegation China und erklärten unser Modell der Sozialpartnerschaft mit freien Arbeitnehmerorganisationen und Arbeitgebervertretungen.
Valérie Berset Bircher (VB): Ebenso erläuterten wir, wie unsere tripartiten Kommissionen, mit Vertretern aus Staat sowie von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, funktionieren. Am Schluss der Gespräche äusserten die Chinesen den Wunsch, das System „in Aktion“ kennenlernen zu können. Wir planen, das in diesem Jahr in der Schweiz möglich zu machen.
In China gibt es eine Einheitsgewerkschaft, bei uns stehen verschiedene Gewerkschaften in Konkurrenz zueinander und es gibt demokratisch gewählte Arbeitnehmervertreter…
JE: Das stimmt. Aber die Geschichte spielt auch eine Rolle, man kann in China nicht eine vier- oder fünftausendjährige Tradition einfach übergehen.
Über welche Instrumente kann die Schweiz in China Einfluss nehmen?
KF: Das läuft über zwei Schienen. Die eine ist ein Dialog und Erfahrungsaustausch mit den Behörden, bei dem wo möglich die Sozialpartner dabei sind. Je nach Bedarf besuchen chinesische Delegationen die Schweiz. Dies war bis jetzt drei Mal der Fall. Die zweite Schiene ist das Projekt „Sustaining Competitive and Responsible Enterprises“ (SCORE) der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), das wir in China unterstützen. Dieses wird auf Unternehmensebene umgesetzt. Es zielt darauf ab, die Arbeitsbedingungen und die Produktivität zu verbessern. Die beiden Schienen ergänzen sich, in beiden sind die gleichen Partner aktiv.
Was sind die bisherigen Erfahrungen mit den Abkommen in China?
KF: Die Abkommen funktionieren sehr gut. Der Austausch geschieht regelmässig, das Vertrauen ist vorhanden. Die Ministerien zeigen grosses Interesse, die Programme zu übernehmen. Wir müssen diese Dynamik jetzt nutzen.
Mit SCORE setzen Sie auf Unternehmensebene an, sagen Sie. Was beinhaltet das Programm genau?
VB: Das Programm besteht aus fünf Modulen. Das wichtigste heisst „workplace cooperation“ (Zusammenarbeit am Arbeitsplatz). Mit diesem Modul wird in allen Unternehmen ein Verbesserungsteam installiert. Darin gibt es Vertreter der Angestellten und des Managements. Die Angestellten können auch Verbesserungsvorschläge in einem Briefkasten deponieren. Das sind für einen chinesischen Betrieb grosse Schritte. Sie bedeuten nichts weniger als einen Mentalitätswandel. Man rückt ab vom bisherigen System der Sanktion, welches eine schlechte Leistung bestrafte, hin zu einer Kultur der Prävention. Die alte Kultur der Sanktion hat dazu geführt, dass in China die Fluktuation sehr hoch ist. Man kann seine Stelle schnell wechseln, weil gleich nebenan eine andere Fabrik steht.
Die weiteren Module decken die Arbeitssicherheit und –gesundheit, die Produktqualität, den Umweltschutz sowie die Human Resources ab.
JE: Obwohl in China die traditionellen Strukturen nach wie vor sehr gefestigt sind, können wir mit diesem pragmatischen Ansatz Veränderungen auf Unternehmensebene erzielen.
Score möchte erreichen, dass chinesische Unternehmen produktiver werden, dass aber gleichzeitig die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Wie kann dieser Spagat gelingen?
VB: Wir waren immer überzeugt, dass bessere Arbeitsbedingungen die Produktivität und den Marktzugang für Unternehmen verbessern. Dadurch können sie wachsen und mehr Leute einstellen. Jetzt haben wir den Beweis dafür, dass dies stimmt.
Wie sieht der aus?
KF: Die Resultate wurden über vier Jahre gemessen und sie sind eindrücklich: 86% der teilnehmenden Unternehmen konnten ihre Kosten reduzieren, 58% reduzierten die Rate der fehlerhaften Produkte, 48% den Materialverbrauch. Die Fluktuation sank in 36% der Betriebe und auch die Absenzen verringerten sich. Die Angestellten sind motivierter, die Produktivität steigt. Dadurch konnte etwa die Hälfte der Betriebe die Löhne anheben. Die Arbeitsbedingungen und die Arbeitssicherheit sind in den SCORE-Betrieben besser.
Im Bericht „Die Zusammenarbeit zu Arbeits- und Beschäftigungsfragen zwischen der Schweiz und China“ des Seco steht, dass an SCORE 120 chinesische KMU mit 61 000 Beschäftigten teilgenommen haben. Das ist bei über 750 Millionen Beschäftigten in China erst ein Tropfen auf den heissen Stein. Was nützt so etwas?
VB: Wir möchten mit unseren Initiativen natürlich nicht nur an einem kleinen Ort etwas erreichen, sondern eine allgemeine Wirkung erzielen. Wir arbeiten darum auch mit zwei Ministerien zusammen: dem „ministry of human resources and social security“ (Arbeitsministerium) und der „state administration of work safety“ (Arbeitssicherheit). Wir zeigen ihnen auf, dass es sich lohnt, die Programme grossflächig umzusetzen. Das ist von den Ministerien bereits geplant, das Programm soll auf neue Provinzen ausgedehnt werden. In Indien, wo wir vor China aktiv wurden, hat dieses Verfahren bestens funktioniert.
KF: Es gehört zudem zu unserer Strategie, mit multinationalen Unternehmen zusammenzuarbeiten. Diese unterstützen SCORE als Programm für ihre Lieferketten und finanzieren es mit.
Ist SCORE in China nur auf KMU ausgerichtet?
KF: Ja, aber es liesse sich auch in grossen Unternehmen realisieren. In China können allerdings auch die KMU recht gross sein und mehr als 1000 Angestellte haben.
JE: Wir wollen einen Schneeballeffekt auslösen und können das bei den KMU. Was die grösseren Betriebe in China betrifft, werden diese international viel stärker beobachtet. Dort sind internationale Gewerkschaften aktiv und globale Konsumentenorganisationen schauen darauf, dass Standards eingehalten werden. Das wollen wir nicht konkurrieren.
Wie steht China in Bezug auf die Arbeitsbedingungen im Vergleich mit Ländern wie Indien da?
VB: Die schlimmsten Arbeitsbedingungen habe ich in Indien gesehen. Man muss allerdings sagen, dass wir in China nur das beobachten können, was wir von der Regierung aus auch sehen dürfen. Die beiden grössten Problem in China sind für mich der hohe Stellenwert der Autorität und die erwähnte Kultur der Sanktion.
Was kann die Schweiz von China lernen?
VB: Die Chinesen sind super organisiert und ziehen Dinge konsequent, schnell und in grossem Massstab durch…
JE: …und sie bewältigen einen riesigen Arbeitsmarkt. Natürlich ist dort nicht alles perfekt, aber bei uns auch nicht. Wenn wir uns gegenseitig näher kennen lernen, können wir voneinander lernen und profitieren. Wir merken, wie wir immer mehr die gleiche Sprache sprechen. Die Stimmung ist heute sehr positiv.
Wie werden die Arbeitsbedingungen in China in 10 und in 20 Jahren aussehen?
KF: Wir hoffen, dass China den Schritt zu besser ausgebildeten Arbeitskräften mit besseren Arbeitsbedingungen schafft – und dadurch ein qualitatives Wirtschaftswachstum. Die wachsende Mittelschicht wird sicher höhere Ansprüche an die Arbeitsqualität haben.
JE: Wir haben nicht grosse wirtschaftliche oder politische Umwälzungen im Auge. Für uns ist wichtig, die Situation im Arbeitsalltag der chinesischen Arbeitnehmenden zu verbessern. Wenn China eines Tages alle Grundabkommen der IAO ratifizieren würde, wäre das erfreulich, aber wir verlangen es nicht. Zusammen mit anderen Ländern in der IAO versuchen wir jedoch zu erreichen, dass China die IAO-Grundnormen umsetzt. Dabei steht für uns Schweizer das tripartite System der Sozialpartnerschaft im Vordergrund. Wichtig ist bei all diesen Bemühungen immer, dass wir mit Geduld vorgehen. Gewohnheiten ändert man nicht von heute auf morgen.
Interview: Hansjörg Schmid

