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Das Online-Magazin der Angestellten Schweiz

„Viele sind gefangen in den eigenen geistigen Mauern“

Wer sich am Arbeitsplatz selbst verwirklichen möchte, braucht Denkfreiheit, einen bestimmten Reifegrad und muss Verantwortung übernehmen, findet der Arbeitspsychologe und Unternehmensberater Felix Frei. Und einen guten Chef.

Herr Frei, wie weit können Sie sich selbst in Ihrem Job verwirklichen?

Der Begriff Selbstverwirklichung ist heute gar nicht mehr üblich. Ich arbeitete in den Siebzigerjahren in der kirchlichen Jugendarbeit, war Leiter der Jungwacht im Kanton Solothurn. Selbstverwirklichung war damals sehr wichtig. Wir wollten weg vom quasi paramilitärischen Stil der Pfadi hin zu Kreativität, Solidarität, Gruppen etc. Wir hatten damals folgendes Modell vor Augen: In mir drin steckt etwas, das Selbst. Bei der Selbstverwirklichung kommt das heraus und man kann das tun, was in einem steckt. Ich denke, das ist immer noch das häufigste Verständnis. Ich glaube aber, dass sich die Geschichte genau umgekehrt verhält. Es geht von aussen nach innen. Indem ich mich vor 31 Jahren selbstständig machte, bildete ich durch konkretes Tun das Selbst, welches meine Selbstverwirklichung ausmacht. Das war nicht vorher da und kam dann heraus. Vielmehr entstand durch mein selbständiges Arbeiten immer mehr mein autonomes Selbst. Ich konnte mir das über die 31 Jahre erschaffen. Das Thema Autonomie begleitet mich beruflich seit Jahren.

Es braucht also für die Selbstverwirklichung Freiraum, Autonomie. Was wirkt ihr eher entgegen?

Man ist versucht zu sagen, jede Form von Einschränkung. Aber das stimmt nicht ganz. Wenn wir von Freiheit sprechen, geht es nicht nur um eine Freiheit von, sondern auch um eine Freiheit zu. Die Freiheit von Banden, Ketten und Mauern ist nie absolut. Wenn ich als Selbstständiger im Mandat arbeite, muss ich auch Rücksicht darauf nehmen, was der Kunde zu zahlen bereit ist. Die Freiheit zu – was will ich erreichen, was will ich tun, wie definiere ich meinen Auftrag, wie sehe ich meine Aufgabe – hängt stark von der eigenen Denkfreiheit ab. Viele sind gefangen in den eigenen geistigen Mauern. Diese Mauern sind der Selbstverwirklichung viel hinderlicher als alles, was darum herum ist. Gewisse äusserliche Hindernisse können nämlich die Selbstverwirklichung sogar fördern. Rosa Parks weigerte sich 1955, ihren Sitzplatz für einen weissen Fahrgast freizugeben. Dies öffnete die Schleuse für die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Rosa Parks machte damit für sich eine Selbstverwirklichung, ohne dass sie der Typus Heldin war. Sie hatte bestimmt Angst, aber sie tat es trotzdem. Sie sprengte ihre inneren Ketten. Die Motivation muss immer von einem selbst kommen. Es ist nicht Aufgabe des Chefs, die Angestellten zu motivieren. Ebenso falsch ist es, als Angestellter bloss darauf zu warten, dass man ihm am Arbeitsplatz die grosse Chance bietet. Der Chef kann vielleicht den entscheidenden Anstoss geben, aber dann muss es der Angestellte selber packen. Ein Jagdhund, den man zur Jagd tragen muss, nützt ja auch nichts.

Packen dies denn heutzutage die Angestellten?

Der Zeitgeist ist in dieser Beziehung sehr merkwürdig. In meinem Buch „Verantwortung“ geisselte ich das neoliberale Gesäusel über die Eigenverantwortung. Es wird so getan, als ob jeder ganz allein für sein Glück verantwortlich sei, vom Arbeitgeber gar nichts erwarten könne und selber schuld sei, wenn es ihm nicht gut gehe. Das klingt nur nach dem Schein so, als dass die Neoliberalen auch dafür seien, dass jeder autonom werde. Dazu kommt etwas Weiteres. Die Menschen befinden sich ja auf verschiedenen Entwicklungsstufen (vgl. dazu den Beitrag „Plädoyer für die Überwindung der Hierarchie“ auf Apunto-Online. In einem Kasten sind die Entwicklungsstufen erläutert.) Auf der Stufe E4 befinden sich Menschen, die etwas machen, weil alle anderen es auch machen. Also zum Beispiel Teenager, die kiffen, weil es alle Kollegen auch tun. Auf Stufe E5 beginnt man, eine eigene Meinung zu haben, findet aber, dass die anderen die gleiche haben sollten. Auf Stufe E6 kann man auch andere Meinungen akzeptieren. Im Moment gibt es kräftige Versuche, die Menschheit auf die Stufe E4 zu behaften – also ob dies eine anthropologische Naturkonstante wäre. Ich spreche von der Welt von Facebook und Instagram. Facebook kommuniziert: Du willst doch so sein, wie alle anderen. Du möchtest möglichst viele Likes. Die jungen Nutzer werden so quasi auf E4 zementiert. Eine eigene Meinung zu haben und bei anderen zuzulassen, wird nicht gefördert. Google, Facebook und Amazon sagen: Du musst gleich sein, wie alle anderen. Google definiert, was man wissen darf, Facebook, was man mögen und Amazon, was man kaufen soll. Das geht vollständig gegen die Autonomie. Wo Autonomie überhaupt noch aufscheint, kommt sie nur in der neoliberalen Variante vor. Aus Autonomie wird so etwas völlig Egozentrisches, Egoistisches und Unsolidarisches. Das ist nicht, was ich unter Autonomie verstehe.

Dasselbe ist ja auch in der Politik zu beobachten.

Der Gag ist, dass man Politik hier nicht nach dem chinesischen Modell macht: eine einzige Meinung. Man lässt zwei Meinungen zu. Man kann für oder gegen Trump sein. In jeder der beiden Welten gilt dann aber das chinesische Modell: eine Meinung, und die ist die Wahrheit. Indem wir im Westen mit zwei Universen verfahren, können wir uns die Illusion aufrechterhalten, man habe eine Wahl.

Was kann man in der Führung machen, um solche Entwicklungen bei den Mitarbeitenden zu verhindern?

Man muss Verantwortung fördern. Verantwortung ist für mich der Zwillingsbegriff zur Autonomie. Es gibt keine Autonomie und Selbstverwirklichung, wenn ich nicht die Verantwortung dafür übernehme. Sonst läuft es auf ein Jekami hinaus. Führungskräfte können nur etwas für die Autonomie der Mitarbeitenden tun, wenn es einen nachvollziehbaren unternehmerischen Grund dafür gibt. Auf einer Sklavengaleere gibt es keinen Grund für Autonomie. Da müssen alle im Takt rudern. Unternehmerische Gründe entstehen heute zum Beispiel daraus, dass alles immer schneller wird. Entscheide kann man gar nicht mehr über lange Wege die hierarchischen Stufen hinauf und wieder hinunter fällen und hoffen, sie hätten dann drei Jahre Gültigkeit. Man muss oft rasch und möglichst vor Ort entscheiden können. Dies ist heute zunehmend eine unternehmerische Notwendigkeit. Doch nur wenn sie existiert, kann die Führung das Richtige tun, damit die Mitarbeitenden die Autonomie entwickeln können. Die Führungskraft wird dies aber nur tun können, wenn sie mindestens den Reifegrad E6 hat. Wenn wir die Grundzutaten Verantwortung, unternehmerische Motivation und Reifegrad haben, lautet die Formel: Chance plus Überforderung. Es braucht einen Entscheidungsspielraum und dieser muss so gross sein, dass er den Entscheider überfordern kann. Wenn man nämlich in der Komfortzone bleibt, entwickelt man sich nicht weiter. Damit Mitarbeitende nicht endgültig abstürzen, braucht es ein Führungsauffangnetz, welches eine Aufarbeitung und ein Lernen ermöglicht.

Die Führungsperson bekommt als eine neue Aufgabe.

Absolut, es geht in Richtung „Führen ohne Weisungsbefugnis“. Führung besteht neben dem Entscheiden noch aus ganz anderen Aspekten: Coaching, Betreuung, Rollenklärungen. In neuen Führungsmodellen trennt man nun die Führung von der Entscheidung. Diese Führung hat keine Weisungsbefugnis mehr. Eine Führungsperson gibt den Mitarbeitenden dann Ratschläge, Informationen oder Erfahrungen weiter, die ihnen helfen, ihren Job besser zu machen. Dies setzt voraus, dass die Mitarbeitenden der Führungsperson überhaupt zuhören. Wenn man als Führungsperson ohne Weisungsbefugnis nicht mehr respektiert wird, dann wird dies niemand tun. Wer den Knüppel der Weisungsbefugnis nicht mehr hat, muss als Führungsperson etwas Besseres zu bieten haben.

Welche Führung wirkt einer Selbstverwirklichung entgegen?

Die Führung ist ganz sicher ein potenzielles Hindernis. Es gibt aber auch Strukturen, die entgegen wirken. Zum Beispiel Organisationseinheiten, die über keine ganzheitliche Aufgabe verfügen. Die nichts tun können, ohne diverse andere Bereiche zu berühren. Dies ist einer der Hauptgründe, warum heute die Hierarchie in Frage gestellt wird. Heute geben auch vielfach Systeme vor, was zu tun ist. Man muss zum Beispiel Masken ausfüllen. Da ist es auch nicht weit her mit Selbstverwirklichung. Weiter spielen die Menschen eine wichtige Rolle. Ihrer Selbstverwirklichung können Sie wie gesagt selber entgegenstehen. Aber auch der Druck Ihrer Peers kann eine Ursache sein. Arbeitskollegen können Sie runterholen, können Sie ausstossen. Auch von Seiten der Human Resources wird viel verbrochen. Ich zweifle stark am System der Zielvereinbarungen, welche diese mit Mitarbeitenden abschliessen. Ein letztes Hindernis ist schliesslich die Geschichte. In den Köpfen sind oft noch alte Bilder verankert.

Können neue Führungsmodelle dem abhelfen?

Mit neuen Führungsmodellen haben mehr Leute als vorher ab und zu eine schlaflose Nacht. Die unten, weil sie Verantwortung für Dinge übernehmen müssen, wo dies bisher nicht der Fall war. Die oben, weil sie an Kontrollverlust leiden und unsicher sind, ob es gut kommt. Man braucht also einen guten unternehmerischen Grund, um zu wechseln – sonst nimmt man die daraus resultierenden Startschwierigkeiten niemals in Kauf. Die Selbstverwirklichung ist nicht der Grund für den Wechsel, sondern sie resultiert daraus.

Welche Führungsmodelle sind besonders geeignet für die Selbstverwirklichung der Angestellten?

Klar kommt man mit partizipativen Führungsmodellen weiter als mit autoritären. Das Führungsmodell steht bei mir aber nicht so im Vordergrund. Wichtiger ist mir das Rollenverständnis. Entscheidend ist, ob die Führung auf Weisungsbefugnis beruht, oder ob sie ohne auskommt. Nimmt man den Führungskräften die Weisungsbefugnis weg und schaut, wer immer noch akzeptiert ist, findet man schnell heraus, wer führen kann. Das ist vielleicht jetzt etwas schwarz-weiss gezeichnet…

Sie haben gesagt, dass der Unternehmenszweck ja nicht die Selbstverwirklichung der Mitarbeitenden ist, sondern der Unternehmenserfolg. Chefs machen sich vielleicht trotzdem Gedanken darüber, wie sich ihre Mitarbeitenden im Job selber verwirklichen können. Wie können sie das fördern?

Dort gilt genau das mit der Chance und der Überforderung. Die Autonomiefrage entscheidet sich nicht gegenüber der Welt und allen Menschen der Erde oder Followers auf Facebook, sondern vielleicht gegenüber drei Dutzend Leuten. Ihnen gegenüber gilt es, Autonomie zu entwickeln. Zu Ihnen gehören Partnerin/Partner, Chef/Chefin, Kolleginnen / Kollegen, vielleicht noch die Schwiegermutter. Es geht um etwa 85 Prozent Ihrer Beziehungen. In einem Unternehmen mit 250 Angestellten kommt es nicht darauf an, was alle diese von Ihnen denken, sondern vielleicht ein Dutzend. Darum muss eine Führungskraft nicht ein Modell nehmen und über die ganze Welt stülpen, sondern sie muss ihre vielleicht sieben Führungsbeziehungen so gestalten, dass die Menschen Autonomie entwickeln können.

Wie kann man sich als Chef selber verwirklichen?

Als Chef kann ich nur eine vernünftige Art von Autonomie haben, wenn sie meine Leute auch haben. Die Selbstverwirklichung als Chef hängt mit der Beziehung zum eigenen Vorgesetzten und zu den Untergebenen zusammen. Eine Führungskraft, die selber eine gute Autonomie hat, kann kein Galeerenschiff mit Sklaven betreiben. Die Situation der Führungskraft ist in Bezug auf die Autonomie im Grunde nicht anders als die von Angestellten ohne Führungsfunktion.

Wenn ein Unternehmen sich ein neues Führungsmodell gibt und Chefs die Weisungsbefugnis verlieren, wie kann es gelingen, dass sich diese Chefs nicht als Verlierer empfinden und neue Aufgaben annehmen?

Die zentrale Frage ist: Was hat jemanden motiviert, einen Chefposten zu übernehmen? Wenn es ihm um das gesamte Wohl des Unternehmens geht, kann er in einem neuen Modell viele Chancen entdecken. Ist er aber nur motiviert durch Macht, will er nur dominieren, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Unternehmen zu wechseln. Ich finde es nicht schlimm, wenn in diesem Fall Chefs kündigen.

Wenn es nicht mehr zur Zuständigkeit von Chefs gehört, zu entscheiden: Wer entscheidet dann?

Alle im Rahmen ihrer definierten Rollen. In nicht-hierarchischen Organisationen wurden viele neue Wege erfunden, um das Entscheidungsproblem zu lösen – keineswegs immer über Mehrheiten oder Konsensfindung. Basisdemokratie ist also nicht, um was es hier geht.

Wenn die Weisungsbefugnis, also das Entscheiden allein durch Führungskräfte, wegfällt, sind ja wohl auch viele hohe Löhne nicht mehr gerechtfertigt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass dann eine Lohnbandbreite wie zum Beispiel heute in der UBS noch zu rechtfertigen ist. Das ist für die obersten Chefs sicher ein guter Grund, gegen neue Modelle zu sein.

Interview: Hansjörg Schmid

Montag, 21. Jan 2019

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