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Plädoyer für die Überwindung der Hierarchie

Die Hierarchie hindert in den Unternehmen den Fortschritt, sie passt nicht mehr in unsere Zeit. Davon ist der Arbeits- und Organisationspsychologe Felix Frei überzeugt. Wie man die hierarchische durch eine selbstführende, teamorientierte Organisationsform ersetzen könnte, beschreibt er in einem klugen Buch.

 

„[…] für das unmittelbare Funktionieren grosser Organisationen [ist] niemand unwichtiger als die oberste Führung. Niemand würde merken, wenn die zwei Monate weg wäre (und die oberste Führung weiss dies auch ganz genau).“ Diese deutlichen Worte stehen in der Einführung von Felix Freis Buch „Hierarchie. Das Ende eines Erfolgsrezepts“. Frei schrieb sie nicht einfach, um zu provozieren. Er blickt auf über vierzig Jahre Erfahrung als Arbeits- und Organisationspsychologe zurück und hat die Schwächen der hierarchischen Ordnung aus eigener Anschauung erlebt. In seinem Buch analysiert er sie nicht nur fundiert, er macht auch Vorschläge, wie die Hierarchie überwunden werden könnte. Dabei macht er keinen Bogen um die Hürden, die sich einem solchen Vorhaben in den Weg stellen können.

Hierarchie schränkt das Potenzial ein

Hierarchie, verstanden als funktionale Hierarchie in einer Organisation, ermöglicht zwar sozialen Aufstieg, gewährt Status und Ansehen und verspricht einen Haufen Geld. Sie hat aber in den Augen von Felix Frei zwei sehr gewichtige Nachteile. Sie ermöglicht erstens einen Machtmissbrauch auf Kosten anderer. Frei braucht drastische Worte, um dies zu umschreiben: [Hierarchie] gestattet es, miese Charaktereigenschaften ungestraft auszuleben, [und] vermag rechtschaffene Menschen zu demütigen und zu erniedrigen.“

Als zweiten grossen Nachteil sieht Frei die Neigung der Hierarchie, „den unterstellten Menschen das Denken abzunehmen“, ja sogar „abzugewöhnen“. So kann natürlich das vorhandene intellektuelle Potenzial eines Teams niemals voll genutzt werden. Wer innerlich gekündigt hat, wird garantiert keine neue Ideen einbringen.

Felix Frei findet zudem, dass Hierarchien infantiles Verhalten fördern – weil Chefs ihre Macht ausspielen gibt und Untergebene nicht die volle Verantwortung für ihr Tun übernehmen.

Trend weg von der Hierarchie

In den Organigrammen der allermeisten Unternehmen und Organisationen ist die Hierarchie noch fest verankert. Dennoch ist in der Gesellschaft eine Auflösung zu beobachten. Familien sind heute zum Beispiel in den westlichen Gesellschaften nur mehr selten patriarchalisch organisiert. Die Konsumenten entscheiden immer selbstbewusster, was sie wirklich kaufen wollen. Selbst in den Unternehmen treten Hierarchien immer mehr in den Hintergrund, weil überwiegend in Projekten gearbeitet wird, wo sie kaum eine Rolle spielen. Die Betriebe funktionieren, um es mit Felix Frei auszudrücken, „nicht wegen, sondern trotz der Hierarchie“.

Warum nur gibt es dann erst ganz wenige Organisationen, die offiziell ohne eine hierarchische Organisationsform auskommen? Die Hypothese des Buchautors lautet, dass uns die Angst vor Kontrollverlust daran hindert, den Schritt zu wagen. Dies gilt nicht nur für die Führenden, sondern auch die Unterstellten. Für sie kann es ganz gemütlich sein, keine Verantwortung übernehmen und nicht entscheiden zu müssen.

Eigenverantwortung – aber richtig

Eine nicht hierarchische Organisationsform fusst aber nach Felix Frei gerade auf der Eigenverantwortung aller Beteiligten. Es sei jedoch notwendig, die Eigenverantwortung bis in die letzte Konsequenz umzusetzen: Die Menschen müssen selbstständig entscheiden dürfen, wenn sie die volle Verantwortung übernehmen.

Was heute in Sachen Eigenverantwortung in den Unternehmen umgesetzt sei, sei auf halbem Weg stehen geblieben, kritisiert Frei. Er führt als Beispiel die „Zielvereinbarung“ an. Sie sei quasi ein „Metabefehl, aus dem das Individuum sich alle operativen Befehle im täglichen Tun selbst zu geben hat“. Hierarchie werde so zu einer Art „Auto-Hierarchie“, sie scheine wie Autonomie, sei aber das Gegenteil. Oder anders ausgedrückt: „Ich muss nicht nur tun, was jemand von mir will, ich muss sogar tun wollen, was man von mir will.“

Digitalisierung als Treiber

Der Zeitpunkt, die Hierarchie durch ein besseres Modell zu ersetzen, wäre jetzt perfekt. Die Digitalisierung eröffnet viele neue Möglichkeiten, die Arbeitswelt zu gestalten können. Mit der Digitalisierung kann man einerseits die Arbeit so organisieren, dass jeder Handgriff, den ein Mensch macht, von einer Maschine angeordnet, gesteuert und kontrolliert wird. Solche Jobs gibt es bereits bei Amazon oder Zalando, und sie bieten alles andere als Erfüllung. Eigenverantwortung braucht es dafür null.

Auf der anderen Seite erlaubt die Digitalisierung aber auch Tätigkeiten, die gemäss Frei „ein Höchstmass an Eigenverantwortung erfordern, weil nur so menschliche Intelligenz und Flexibilität optimal zum Tragen kommen“.

Selbstführende Teams als Alternative

Was soll an die Stelle der streng hierarchisch organisierten Unternehmen treten? Felix Frei hat klare Vorstellungen und führt im Buch einige erfolgreiche Beispiele an.

Freis Zauberformel sind selbstführende Teams, die sich in Netzwerken organisieren. Dabei sind die einzelnen Netzwerke Teil von grösseren Netzwerken. In dieser Organisationsform entscheiden alle Teammitglieder selber, aber immer erst, nachdem sie sich schlau gemacht oder beraten haben. Die Management-Aufgaben werden im Team verteilt, die Teammitglieder nehmen (wechselnde) Rollen ein. Das Feedback kommt nicht von oben, sondern vom Kollektiv. In dieser Arbeitswelt muss man überzeugen statt befehlen und auf Vertrauen statt Kontrolle setzen. Die Organisation ist stets im Fluss. Und ganz wichtig: Die Arbeit muss Sinn machen.

Führung wird es weiterhin brauchen, aber es muss natürliche Art von Führung sein, die auf Respekt, Talent, Charisma und Erfahrung beruht.

Demokratisierung der Wirtschaft

Der Autor denkt dies im Buch zwar nicht an, es ist aber aus Sicht einer Angestelltenorganisation ein höchst interessanter Faktor: Die Organisationsform der selbstführenden Teams wäre ein Riesenschritt Richtung Demokratisierung der Wirtschaft. Denn sie behandelt die Angehörigen der Organisation als mündige Menschen, die selber entscheiden und agieren können.

In der westlichen Welt mit ihrer demokratischen Tradition wären die Voraussetzungen, sich von den Hierarchien zu verabschieden, sehr gut. Würden wir uns rasch daranmachen, könnten wir unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber aufstrebenden Ländern wie China und Indien stärken. Beide Länder sind gesellschaftlich noch stark hierarchisch und autoritär ausgerichtet.

Schritt sollte gewagt werden

Einfach, da gibt sich der Buchautor keinen Illusionen hin, wird der Wechsel nicht zu bewerkstelligen sein. Neben dem oben geschilderten Problem des Kontrollverlusts stellt sich laut Frei auch eines der menschlichen Reife der Beteiligten. Um ohne Hierarchien funktionieren zu können, sollten die einzelnen Beteiligten eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht haben. (Frei bezieht sich im Buch auf die Stufen der Ich-Entwicklung von Jane Loevinger, siehe Kasten.) Mit Menschen, die auf einer niedrigen Entwicklungsstufe stehen, wird es mit der Eigenverantwortung und dem Respekt gegenüber der Eigenverantwortung der anderen schwierig, weil die entsprechende Einsicht fehlt. Leider befinden sich lediglich 45 Prozent der Menschen auf der „eigenbestimmten Stufe“ oder darüber. Diese Stufe werde in der Wirtschaftswelt als „das erstrebenswerte Ziel einer gereiften Persönlichkeit angesehen“. Wie man die Menschen darunter einbinden könnte, dazu hat Felix Frei kein Rezept.

Dennoch sollte man den Versuch unbedingt wagen. In der Praxis wäre es ja absolut kein Problem, wenn hierarchische neben nicht hierarchischen Unternehmen wirtschaften – das ist ja bereits jetzt der Fall. Die Angestellten könnten wählen, wo sie arbeiten wollen. In nicht hierarchischen Unternehmen könnten „Entwicklungsprogramme“ hilfreich sein.

Entscheiden sich Angestellte für die selbstführende Organisation, gewinnen sie die grosse Freiheit. Diese kommt allerdings gemäss Felix Frei zu einem dreifachen Preis: Man kann sich „nicht mehr hinter der Verantwortung des Vorgesetzten verstecken“, man muss „einen viel höheren Kommunikations- und Aushandlungsbedarf aushalten“ und man muss, mangels Vorgesetztenbeurteilung, „damit klarkommen, dass die Bewertung der eigenen Leistung […] eine Frage des Peer-Feedbacks ist“. Das Erfeuliche an diesen drei Themen sei aber, dass man daran wachsen könne.

Hansjörg Schmid

Mittwoch, 26. Jul 2017

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Das Buch

Felix Frei, Hierarchie. Das Ende eines Erfolgsrezepts. Pabst Science Publishers, Lengerich

Die Stufen der Ich-Entwicklung

Empirische Studien aus den letzten rund 60 Jahren haben ergeben, dass sich Menschen in der Reife ihrer persönlichen Handlungslogik unterscheiden. Der Prozess der Herausbildung dieser Reife wird als Ich-Entwicklung bezeichnet. Die Ich-Entwicklung erfolgt in Stufen, wobei keine Stufe übersprungen werden kann und jeder Mensch auf einer der Stufen stehen bleibt.

Die Wissenschaft unterscheidet neun Stufen: Die vorkonventionellen frühen Stufen E1 bis E3, die konventionellen mittleren Stufen E4 bis E6 und die postkonventionellen Stufen E7 bis E9. Die vorkonventionellen Stufen erreichen 5% der Menschen, E4 12%.

Ab E5, der rationalistischen Stufe, wird es interessant. Personen auf dieser Stufe wird klar, dass Menschen vielschichtig sind und häufig nicht mit den sie betreffenden Stereotypen übereinstimmen. Dinge werden zunehmend hinterfragt, Selbstkritik ist in Ansätzen vorhanden. 38% der Menschen bleiben auf dieser Stufe stehen.

E6 ist die eigenbestimmte Stufe, 30% schaffen es bis hierher. Auf dieser Stufe ist ein Ich entstanden, das unabhängig von anderen konstruiert ist. Es ist gekennzeichnet durch selbst evaluierte Standards und Werte, an denen die eigene Verantwortung festgemacht wird. Eine Person auf dieser Stufe ist reflektierend und zu Selbstkritik fähig.

10% der Menschen steigen auf bis E7, der relativierenden Stufe. Die eigene Subjektivität wird zunehmend gesehen und in Rechnung gestellt. Diese Menschen tolerieren Unterschiede leichter und lassen innere und äussere Konflikte und Widersprüche zu.

Die relativierende ist die Übergangsstufe zur systemischen Stufe, die lediglich noch 4% erreichen. Menschen dieser Reife können die Andersartigkeit anderer Menschen voll akzeptieren und schätzen deren Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Mögliche Fehler anderer werden aus wohlwollender Distanz betrachtet. Widersprüchliche Ideen oder Konzepte können vereint werden.

Die schwer fassbare letzte Stufe, die integrierte, schafft nur noch jeder Hundertste.

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