Mit einem GAV gewinnen alle
Knapp die Hälfte der Schweizer Angestellten ist einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt. Diese Angestellten haben Glück, denn ein GAV bedeutet für sie bessere Arbeitsbedingungen.

Die Verhandlungen waren ein hartes, zähes, schweisstreibendes und manchmal nervenaufreibendes Ringen. Aber es hat sich gelohnt: Das Resultat stellt einen Meilenstein dar. Die Rede ist vom ab dem 1. Juli 2018 geltenden neuen Gesamtarbeitsvertrag der MEM-Industrie. (Welche Verbesserungen dieser für die Angestellten bringt, erfahren Sie in unserer Medienmitteilung.)
Der erneuerte GAV stellt für die MEM-Branche zwei Dinge sicher: Gute Arbeitsbedingungen für alle ihm unterstellten Angestellten sowie gute Marktchancen der im globalen Wettbewerb stehenden Unternehmen. Vom GAV profitieren also sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber. Das gilt generell für Gesamtarbeitsverträge und ist ihr wichtigster Vorteil.
GAV = bessere Arbeitsbedingungen
Unser Land ist noch kein GAV-Paradies – dieses liegt östlich der Schweiz. In Österreich unterstehen fast 100 Prozent der Angestellten einem Gesamtarbeitsvertrag. In Frankreich sind es rund 90 Prozent, in Italien über 80 und in Deutschland ca. 60 Prozent. Auf der anderen Seite der Skala stehen Länder wie die USA mit etwa 10 oder Grossbritannien mit ungefähr 30 Prozent. In der Schweiz sind es 49 Prozent. Mehr als zwei Millionen Angestellte profitieren hierzulande von einem GAV.
Vergleicht man die Arbeitsbedingungen in Österreich oder Deutschland mit denen in den USA oder Grossbritannien, so wird sofort klar, dass Gesamtarbeitsverträge bessere Arbeitsbedingungen für die Angestellten bedeuten. Wo herrscht eine ausgeprägte „hire and fire“-Mentalität? Wo sind für viele Tätigkeiten die Löhne mies? Wo hat man nur auf wenige Tage Anrecht auf Ferien? Klar, in den USA, nicht in Österreich.
Schweiz holt auf
Von Österreich liegt die Schweiz noch ein ganzes Stück entfernt, aber wir überholen vielleicht bald Deutschland. Die Entwicklung läuft bei uns nämlich in Richtung mehr Abdeckung durch Gesamtarbeitsverträge. Die Zahl der GAV-Unterstellten steigt, weil mehr GAV allgemeinverbindlich erklärt werden.
Dieser Trend widerlegt Befürchtungen, wie sie auch den Angestellten Schweiz vor kurzem noch nicht abwegig schienen. Nämlich, dass Gesamtarbeitsverträge zu einem Auslaufmodell werden. Lag der Deckungsgrad von Kollektiverträgen hierzulande 1985 bei rund der Hälfte der Angestellten, sank er bis 2003 auf gut 40 Prozent, um seit diesem Zeitpunkt wieder auf 49 Prozent zu steigen. In Deutschland ist er gemäss OECD-Statistik seit den frühen Neunziger-Jahren hingegen am Sinken.
Die Angestellten Schweiz wollen auch dazu beitragen, dass die Zahl der GAV-Unterstellten weiter steigt. Sie haben nämlich mit der Schweizerischen Bodenbelagsbranche einen Gesamtarbeitsvertrag ausgehandelt und Ende Mai 2017 unterzeichnet. Nun müssen aus dieser Branche möglichst viele Angestellte Mitglied bei den Angestellten Schweiz werden, damit der GAV vom Staatssekretariat für Wirtschaft allgemeinverbindlich erklärt werden und in Kraft treten kann. Dann können alle rund 5500 Angestellten der Branche von ihm profitieren. Aktuell ist der Bodenleger Minur Ajdaroski zusammen mit Caroline Hasler, Rechtsanwältin bei den Angestellten Schweiz, in Sachen Mitgliederwerbung unterwegs (siehe Artikel „Der Unermüdliche“ in Apunto 2/2018).
Verschiedene Arten von Gesamtarbeitsverträgen
Der GAV der MEM-Industrie ist ein so genannter Branchen-GAV. Das heisst, er wird in der Branche angewendet. Da er nicht allgemeinverbindlich ist, allerdings nicht in allen Unternehmen der Branche, sondern nur in solchen, die Mitglied beim Arbeitgeberverband ASM sind. Der GAV für den Gleisbau hingegen gilt für sämtliche Betriebe der Branche in der ganzen Schweiz. Möglich ist eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung auch für einzelne Kantone.
Neben Branchen-GAV gibt es regionale, kantonale oder sogar lokale Gesamtarbeitsverträge sowie Firmenverträge, die nur für das entsprechende Unternehmen gelten. Der Einheitsvertrag von BASF, an dem auch die Angestellten Schweiz beteiligt sind, ist ein Beispiel.
Der grosse Vorteil einer Aushandlung von Verträgen für Branchen, Regionen oder Unternehmen liegt darin, dass sie deren Bedürfnisse perfekt abdecken können. Schweizweit geltende Gesetze können dies nicht. Darum regeln die GAV viel feiner als das Arbeitsgesetz oder das Obligationenrecht.
Die Bestimmungen in Gesamtarbeitsverträgen sind für die Unterstellten immer vorteilhafter als die erwähnten Gesetze. Die Vorteile sind den Unterstellten zwingend zu gewähren. Ein Arbeitgeber kann sich also nicht auf das Obligationenrecht berufen, wenn er findet, seine Angestellten sollten 4 statt der in seinem GAV postulierten 5 Wochen Ferien haben.
Vorteile für Angestellte…
Die Vorteile, die ein GAV einem Angestellten bringt, lassen sich konkret beziffern. Sie sind natürlich von Vertrag zu Vertrag unterschiedlich. Wer dem GAV der MEM-Industrie unterstellt ist, arbeitet zum Beispiel 40-Stunden pro Woche statt 45, wie es gemäss Arbeitsgesetz möglich ist. Er hat Anrecht auf 25 (ab Alter 20), 27 (ab 40) oder 30 (ab 50) Ferientage statt nur 20, wie sie das Obligationenrecht vorschreibt. Gesichert ist ihm auch ein 13. Monatslohn. Neu sind im MEM-Vertrag auch fortschrittliche Massnahmen bezüglich Weiterbildung enthalten, was die beste Antwort auf die Herausforderungen in der zunehmend globalisierten und digitalisierten Arbeitswelt ist.
In vielen Branchen profitieren die GAV-Unterstellten von definierten Mindestlöhnen, die nicht unterschritten werden dürfen. Dies ist zum Beispiel im GAV Personalverleih der Fall, der allgemeinverbindlich ist. Aktuell wird um einen neuen GAV für die Temporärbranche gerungen.
Auch die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerseite sowie die Konsultationsverfahren werden in Gesamtarbeitsverträgen verbindlich geregelt. Dies sichert einen reibungslosen Vollzug des GAV und eine gelebte Sozialpartnerschaft.
Eine bessere Sozialpartnerschaft vermag Jobs zu retten. „Bei Massentlassungen werden am Ende bedeutend weniger Stellen gestrichen, als zu Beginn angekündigt. Hauptverantwortlich für die Diskrepanz sind Konsultationsverfahren zwischen Unternehmen, Vertretern der Arbeitnehmer und den Sozialpartnern.“ Dies war im letzten Dezember auf der Website des Schweizer Fernsehens zu lesen. Die Sendung 10vor10 hatte die Probe aufs Exempel gemacht und herausgefunden, dass im 15 untersuchten Kantonen im Jahr 2016 mehr als ein Dritte weniger Angestellte abgebaut wurden als ursprünglich angekündigt. In Gesamtarbeitsverträgen sind die Verfahren bei Massenentlassungen besonders gut und detailliert geregelt.
…wie für Arbeitgeber
Die Arbeitgeber erhalten dank Gesamtarbeitsverträgen vor allem Sicherheit, an vorderster Stelle den Arbeitsfrieden. Denn das Obligationenrecht hält fest, dass die Vertragsparteien eines GAV verpflichtet sind, den Arbeitsfrieden zu wahren. Sie haben sich „Kampfmassnahmen zu enthalten“ – zumindest, „soweit es sich um Gegenstände handelt, die im Gesamtarbeitsvertrag geregelt sind“. Anders ausgedrückt helfen Gesamtarbeitsverträge, Streiks zu vermeiden. Die Franzosen und Italiener mögen zwar mehr GAV-Unterstellte haben als wir, aber wir haben definitiv weniger Streiks. (2015 waren es gerade mal 13, was 13 274 ausgefallenen Arbeitstagen entspricht. 2015 war ein Spitzenjahr, 2014 waren es lediglich 8 Streiktage.) Das spricht für die Qualität der Sozialpartnerschaft à la Suisse. Im GAV-Paradies Österreich wurde seit 2015 übrigens gar nicht mehr gestreikt.
Klar geregelte und den Branchenverhältnisse optimal angepasste Arbeitsverhältnisse geben den Arbeitgebern auch viel Planungssicherheit. Im harten globalen Marktumfeld ist das ein wichtiger Faktor.
Nicht zuletzt profitieren die Arbeitgeber von Angestellten, die motivierter arbeiten und mehr Leistung bringen, weil sie dank einem GAV bessere Arbeitsbedingungen haben. Von einem Gesamtarbeitsvertrag profitieren also alle.
Hansjörg Schmid
Vertragswerke mit Beteiligung der Angestellten Schweiz
Die Angestellten Schweiz sind an verschiedenen Vertragswerken beteiligt. Sie sind Partner dreier Gesamtarbeitsverträge sowie dreier Firmenverträge. Der GAV der MEM-Industrie wurde eben mit erfreulichem Resultat frisch ausgehandelt, andere GAV sind noch in Verhandlung.
Gesamtarbeitsverträge:
>> Gesamtarbeitsvertrag in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie
>> Gesamtarbeitsvertrag für die Schweizerische Bodenbelagsbranche
Für den Verband Kaderverband des öffentlichen Verkehrs handeln die Angestellten Schweiz aktuell den GAV der SBB mit aus.
Firmenverträge:
>> Firmenvertrag Atos