„Verantwortung setzt Entscheidungsspielraum voraus“
In Betrieben, die von hoher Agilität geprägt sind, sei die Hierarchie kein taugliches Organisationsprinzip mehr, findet der Arbeitspsychologe und Organisationsberater Felix Frei. Er fordert mehr Selbstführung von Teams und echte Verantwortung jenseits von Schlagworten.

Herr Frei, Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie zur Feststellung gelangen, dass die Hierarchie in Unternehmen und Organisationen ausgedient hat. Warum glauben Sie, dass es so ist?
Ich glaube nicht, dass sie ganz ausgedient hat. Im Zuge der Digitalisierung ist aber ein Versprechen auf eine unglaubliche Agilität entstanden, die in gewissen Märkten notwendig, ja überlebenswichtig ist. Dort reicht die technische Unterstützung der Digitalisierung allein nicht, sondern man braucht auch eine ganz andere Organisation. Die Hierarchie kann nicht mehr das leitende Organisationsprinzip sein. Sie wäre zu träge, zu kompliziert und zu wenig entscheidungsfreudig. Es gibt aber Bereiche, in denen neue Organisationsformen noch lange nicht oder vielleicht gar nie eingeführt sein werden.
In welcher Art von Betrieb ist eine hohe Agilität erforderlich?
Es betrifft schon verschiedene Branchen – überall, wo sich die Kundenbedürfnisse rasch ändern. Ein Beispiel ist die IT. Für einzelne Bereiche ist eine neue Organisationsform kein Problem, schwierig wird es jedoch, wenn in einem Unternehmen zwei Welten gleichzeitig existieren. Nehmen wir eine Krankenversicherung. Abteilungen wie Produktentwicklung, Marketing oder IT müssen hoch agil sein. Im Bereich Leistungskontrolle, der kontrolliert, was die Versicherten einschicken, wird hingegen eine Art Fleissbandarbeit wie zu alten Zeiten verrichtet. Die Abläufe sind genau definiert und die Vorgesetzten kontrollieren diese. Die Angestellten müssen einfach ihre Arbeit fleissig, gewissenhaft und sorgfältig erledigen.
Wie geht man mit den zwei Welten um?
Man kann durchaus die einen Felder so, die anderen anders organisieren. Man muss es einfach begründen können und der Grund muss nachvollziehbar und glaubwürdig sein. Den Angestellten muss man reinen Wein einschenken. Sie müssen wissen, was sie zu erwarten haben.
Welche valablen Alternativen zur hierarchischen Organisation gibt es?
Wohlerprobte Modelle gibt es und sie sind gut dokumentiert, zum Beispiel Netzwerkorganisationen oder Rollenmodelle wie Holacracy (vgl. dazu den Beitrag „Das Orchester und sein Dirigent“). Das „Wie“, die Umsetzung, ist nicht das Problem. Die wichtige Frage ist vielmehr: Gibt es einen Grund dafür, ein solches Modell umzusetzen? Es reicht nicht, einfach von der Idee begeistert zu sein – es muss einen unternehmerischen Grund geben.
Was halten Sie von Holacracy?
Für mich ist dieses Modell etwas zu „kanonisch“. Es wirkt mit seinen strengen Regeln wie von Rom bestimmt. Die Grundidee finde ich aber sehr gut.
In der Holacracy gibt es Rollen statt Stellen. Was ist der Unterschied?
In solchen Organisationen werden die Aufgaben in Tätigkeiten aufgelöst, und zu denen gehören Rollen. Jemand ist für dies, jemand für jenes zuständig. Die Rollen werden mit einem Zeitbudget ausgestattet und danach Personen zugewiesen. Eine Person hat dann vielleicht eine einzige Rolle, das wäre dann fast gleich wie bei einer herkömmlichen Stelle. Es kann aber sein, dass man zwei, drei oder fünf Rollen bekommt. Auch kann es morgen schon wieder anders sein als heute. Führung ist auch eine Rolle.
Die Digitalisierung ermöglicht unter anderem, dass Angestellte durch Systeme oder Algorithmen geführt werden. Wie stehen Sie dazu?
Ich beobachte eine Neuauflage des Taylorimus. Viele Leute arbeiten computergestützt in Systemen, die vorgeben, was man zu tun hat. Auch hier muss man den Betroffenen klar sagen, was die Voraussetzungen sind. Einschränkungen müssen nicht schlecht sein. Ein Tramchauffeur kann seine Gleise schliesslich auch nicht verlassen.
Glauben Sie, dass die Führung durch Systeme zunehmen wird?
Durchaus. Das führt dazu, dass seitens der Vorgesetzten eine Führung entsteht, die immer dürfen, aber nie müssen will. Das heisst, wenn der Chef gerade Zeit hat, schaut er dem Angestellten über die Schulter und korrigiert ihn. Ist er jedoch beschäftigt oder abwesend, geht er davon aus, dass der Angestellte schon weiss, wie er seine Arbeit machen muss. Das bringt den Angestellten in eine Kontrollverlust-Situation. Er weiss nicht, ob er gesteuert wird oder ob er selber verantwortlich dafür ist, wie er die Arbeit erledigt. Das ist unangenehm und löst Stress aus.
Wie kann man das vermeiden?
Man muss auch hier konsequent sein. Entweder führt das System und man betrachtet nur den Output oder man hat eine Führungsbeziehung und man kann Probleme gemeinsam anschauen.
Sie schlagen im Buch vor allem selbstführende Teams als Alternative zu einer hierarchisch geführten Organisation vor. Sie weisen darauf hin, dass dies jedoch eine gewisse menschliche Reife voraussetzt. Die Beteiligten sollten eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht haben. In wie vielen Prozent der Unternehmen und Organisationen haben sie die notwendige Reife?
Das ist eine schwierige Schätzung. Es gibt aber empirische Zahlen, wie viele Menschen sich in den Entwicklungsstufen befinden. Die Entwicklung schreitet in Stufen voran. Man muss wissen, dass sie irgendwann stoppt, dass man auf einer Stufe stehen bleibt. Die Modelle unterscheiden neun Stufen. Kinder entwickeln sich von E1 bis E3. Die meisten Menschen erreichen E4 bis E6. Die Stufen E7 bis E9 schaffen noch 15 Prozent. (Eine Beschreibung der Stufen finden Sie im Artikel „Plädoyer für die Überwindung der Hierarchie“.) Diese Menschen eignen sich als Führungskräfte in Organisationen, die auf reife Menschen setzten.
Wie würden Sie die Stufen E4 bis E6 charakterisieren?
Ein E4-er macht etwas, weil es alle anderen auch machen. Zum Beispiel rauchen, weil die Kollegen ebenfalls rauchen. Ein E5-er entdeckt, dass er einen eigenen Standpunkt haben kann, selbst wenn alle anderen eine andere Meinung haben. Er glaubt aber, dass alle, die es nicht so sehen wie er, doof sind. Der E6-er hingegen anerkennt, dass man mit Fug und Recht auch einen anderen Standpunkt vertreten kann. Auf den weiteren Stufen differenziert und relativiert sich dies weiter.
Warum stoppt die Entwicklung irgendwann?
Ein wichtiger Punkt ist Erfolg. Wenn Sie z.B. als E5-er CEO werden und sagen, wo es langgeht und am Markt Erfolg haben, dann kommen Sie in keinen Entwicklungsdruck. Warum sollten Sie etwas ändern? Es kann aber auch sein, dass Sie als E4-er immer schön in der Herde mitlaufen und bequem zu führen sind. Ihr Vorgesetzter wertschätzt sie deswegen und Sie sehen keinen Grund, die Komfortzone zu verlassen.
Wie realistisch ist es, dass selbstführende Teams erfolgreich sein können, wenn die meisten Mitglieder darin auf den Stufen E4 bis E6 sind?
Es ist absolut realistisch. Die Teams können das lernen. Sie werden vielleicht ins kalte Wasser geworfen, aber sie können schwimmen. Ich habe vor 30 Jahren schon in der Industrie ein entsprechendes Projekt mit unqualifizierten ausländischen Arbeitnehmerinnen erfolgreich und in rascher Zeit realisiert.
Was passiert, wenn ausgerechnet der Chef auf einer eher tiefen Stufe ist?
Dann kann es schwierig werden. Es ist aber nicht so wahrscheinlich, dass jemand auf Stufe E4 gerade CEO wird. In agilen Organisationen mit Rollen statt Stellen ist diese Problematik weniger akut, das die Führungsrollen ja wechseln.
Was kann man in einem Betrieb tun, damit die Angestellten schneller reif werden?
Man kann die gleiche Formel anwenden: Chance plus Überforderung. Man braucht Freiraum, um sich zu entwickeln, muss aber auch gefordert werden. Mit „Überforderung“ meine ich aber nicht eine totale Überforderung, sondern psychologisch betrachtet die Zone der nächsten Entwicklung, in der man etwas ausprobiert, das auch schief gehen kann. Um schwimmen zu lernen muss man ins Wasser, das geht nicht auf dem Land. Notfalls zieht einen jemand aus dem Wasser.
Zum Thema Verantwortung haben Sie ein weiteres Buch geschrieben. Warum ist Verantwortung wichtig beim Führen?
Ich würde die Frage etwas anders stellen: Wann ist Verantwortung wichtig? In den klassisch-hierarchischen Organisationen liegt sie klar bei den Führungskräften. Die Angestellten mit ausführenden Aufgaben müssen über Arbeitstugenden verfügen: sie sollen diszipliniert, sorgfältig und zuverlässig sein. Dort gibt es keine Verantwortung. Verantwortung hat man nur, wenn man etwas entscheiden kann. Es sind die Entscheidungen, die zu verantworten sind. Man muss auch bereit sein, die Folgen der Entscheidung zu tragen.
Wenn etwas falsch läuft, wie zum Beispiel im Skandal um die Subventionen beim Postauto, werden immer die obersten Manager dafür behaftet. Können diese stets die Verantwortung übernehmen?
Hier geht es um eine Schuldzuweisung oder Haftbarmachung. Der Begriff Verantwortung wird dafür gebraucht, es handelt sich aber nicht um das Gleiche. Manager müssen damit rechnen, haftbar gemacht zu werden, sie werden für dieses Risiko auch bezahlt.
Sie fordern in Ihrem Buch, dass eine Führungsperson, oder auch ein Angestellter ohne Führungsfunktion, die Verantwortung sucht und übernimmt. Warum ist das wichtig?
Niemand kann jemandem abnehmen, bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Man muss das gelernt haben und man muss es wollen. Natürlich nicht in allem. Ich übernehme nicht die Verantwortung für den Strassenverkehr in Zürich. Die Herausforderung für die Führung in nicht hierarchischen Unternehmen liegt darin, dass die die Geführten einem folgen, ohne dass man eine Weisungsbefugnis hat. Das schaffen nur Leute, die mit ihrer eigenen und der Verantwortung der Geführten umgehen können.
Was hindert die Menschen, Verantwortung zu übernehmen?
Wenn behauptet wird, dass Menschen keine Verantwortung übernehmen wollen, ist das eine ganz faule Ausrede. Klar sagen manche Angestellte, dass sie es nicht wollen. Dann muss man sich aber fragen, warum und ob sie es nicht lernen können. Meine Erfahrung ist, dass sie es können. Haben sie die Verantwortung einmal übernommen, wollen sie sie nicht mehr hergeben.
Sie schreiben im Buch, dass der heute omnipräsente Begriff Eigenverantwortung missbraucht werde. Warum gelangten Sie zu dieser Ansicht?
Dieser Begriff meint eigentlich nichts anderes, als „du sollst von dir aus das machen, was ich von dir will“. Das ist Betrug! Wenn man Verantwortung verlangt, muss man auch die entsprechenden Entscheidungsspielräume dazugeben. Für echte Verantwortung muss es einen echten, geschäftlichen Grund geben.
Interview: Hansjörg Schmid
Buchtipp

Felix Frei, Verantwortung. Eine Entscheidungsfrage. Pabst Science Publishers.
Mehr zum Thema Führung
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