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Geben Sie Ihren Arbeitskolleg*innen Noten

Heute sind wir es gewohnt, die Leistungen, die wir erhalten, zu bewerten. Aber Arbeitskolleg*innen beurteilen, das ist noch ungewöhnlich. Doch genau diese Praxis hält nun auch auf dem Schweizer Arbeitsmarkt Einzug.

Sie haben gerade einen angenehmen Abend im Restaurant verbracht, das Essen, der Service: alles war perfekt. Bei Ihrer Rückkehr nach Hause vergeben Sie dem Restaurant schnell fünf Sterne auf allen möglichen Bewertungsplattformen. Im Falle einer schlechten Erfahrung verteilen Sie weniger Sterne und zögern nicht, einen wenig schmeichelhaften Kommentar über das Restaurant zu veröffentlichen. Die Bewertung eines Restaurants oder Hotels ist für viele von uns zur Gewohnheit geworden. Den Verkäufer, der uns bedient, den Versicherungsberater, der unsere Fragen beantwortet, usw. zu beurteilen wird immer normaler.

Auf Punktejagd

In der Tat werden wir heute nach der Inanspruchnahme einer Dienstleistung oder bei einem Kauf häufig gebeten, die Servicequalität und/oder die Dienstbereitschaft des Mitarbeiters zu bewerten. Ein Verkäufer kann sich kaum mehr einen Fehler oder nur schone einen Durchhänger leisten, sonst riskiert er eine schlechte Bewertung. Sein einziges Ziel: alles tun, um gute Noten zu erhalten. Im Frühjahr 2018 wies eine Reportage des welschen Fernsehens RTS auf das Problem der Jagd nach guten Ratings hin. Diese führte drei Angestellte im Jura sogar dazu, zu betrügen, indem sie die Ergebnisse ihrer Bewertungen künstlich erhöhten. Der Betrug wurde aufgedeckt und sie wurden entlassen.

Als Kunde ist es normal geworden, Noten zu verteilen. Können Sie sich aber vorstellen, dies bei Ihren Arbeitskolleg*innen zu tun? Am Ende eines Projekts oder einer Sitzung gehen Sie auf eine Plattform und geben den Kolleg*innen, mit denen Sie gerade gearbeitet haben, Punkte. Sie bewerten ihre Leistung und ihr Verhalten. Schockiert Sie das?

Powercoins bei Postfinance

Diese Praxis verbreitet sich allmählich in der Arbeitswelt, auch in der Schweiz. Mit der Einführung eines solchen Ratingsystems hat Postfinance kürzlich eine Debatte ausgelöst. Das Unternehmen hat ein System des direkten Feedbacks eingerichtet, mittels dem «Powercoins» unter den Mitarbeitern verteilt werden. Mehr als ein Drittel der 3500 Mitarbeitenden der Bank haben sich bereit erklärt, sich am Projekt zu beteiligen.

Das System funktioniert folgendermassen: Mitarbeitende verteilen die Münzen an ihre Kolleg*innen, wenn sich diese sich vorbildlich verhalten haben. Die Führung geht mit gutem Beispiel voran: ein kühner Entscheid. Auf Anfrage des Fernsehens SRF betont Roger Lötscher, der bei Postfinance für die Personal-Transformation zuständig ist und das Projekt initiiert hat, dass es nicht darum gehe, zu sagen, ob eine Aufgabe gut oder schlecht erledigt wurde, sondern darum, positives Verhalten zu belohnen. Mit den gesammelten Powercoins können die Mitarbeitenden Gutscheine für E-Books oder Kaffee erwerben.

Wirkt das System?

In der Schweiz ist es noch zu früh, um dies zu beantworten, die Praxis ist ganz neu. Sie könnte aber auch in anderen Unternehmen Schule machen. Diverse grosse internationale Konzerne wie Google und Amazon nutzen bereits seit einiger Zeit ein Mitarbeiterbewertungssystem. Es ist klar, dass ein solches System nicht die jährliche respektive regelmässige Bewertung zwischen Mitarbeitenden und ihren Vorgesetzten ersetzen soll. Es ist auch nicht sicher, dass die Beurteilung von Kolleg*innen eine gute Unternehmenskultur fördert. Sie denken vielleicht, dass Sie bei einem Projekt gute Arbeit geleistet haben und erwarten von den anderen Mitgliedern Ihres Teams gute Noten dafür, aber diese kommen nie. In diesem Fall sind Sie bestimmt enttäuscht und werden demotiviert.

Das System der Arbeitskolleg*innen-Evaluierung weist indirekt auf einen wichtigen Punkt hin: die Bedeutung des Feedbacks. Arbeitet man regelmässig mit derselben Person an Projekten und sagt ihr nie, was auf lange Sicht gut oder schlecht an ihrer Arbeitsweise ist, kann das negative Folgen haben. Austausch ist wichtig. Der anderen Person zu helfen, ihre Schwächen zu erkennen und sie vorwärts zu bringen, ist ein Gewinn für alle. Ebenso ist es ein Gewinn, anderen zu gratulieren und sie zu bestärken, wenn das Resultat stimmt. Anastasia Sapegnia, Arbeitspsychologin an der Universität St. Gallen, die in der SRF-Reportage interviewt wird, weist darauf hin, dass die Mitarbeitenden Anerkennung wollen und Feedback.

Regelmässige Feedbacks statt Jahresgespräch

Es ist wichtig, Rückmeldungen zu unserer Arbeit zu erhalten, und zwar regelmässig. Gewisse Expert*innen betonen, dass das Feedback weder positiv noch negativ sein sollte. Feedback bedeutet nicht Kritik. Sein Zweck soll entweder darin bestehen, den Mitarbeitenden zu bestätigen, dass das, was sie tun, gut ist, dass ihre Leistung geschätzt wird. Oder sie warnen, dass ihre Arbeit nicht zufriedenstellend ist, damit sie Fehler korrigieren und sich weiterentwickeln können.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Unternehmensfeedbacks ist das Zuhören. Jede*r muss sprechen und gehört werden können. Die Beurteilung von Mitarbeitenden durch ihre Vorgesetzten ist kein Monolog, sondern ein Austausch zwischen zwei Personen, die für dasselbe Unternehmen arbeiten. Leider geht dies manchmal vergessen. Beim Feedback oder der Beurteilungen zwischen Kolleg*innen ist das Zuhören genauso wichtig wie der Respekt. Denn wie gesagt: das Geben von Feedback ist keine Kritik.

Virginie Jaquet

Freitag, 23. Okt 2020

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