Ein Jahr der Verhandlungen für die Angestellten Schweiz
Ein Raum, zwei Tischreihen, konzentrierte Personen, die sich misstrauische Blicke zuwerfen: Wir sind mitten in Verhandlungen. Auf einer Seite die Arbeitgebervertreter, auf der anderen die der Arbeitnehmer – sie verfolgen je ihr eigenen Ziele: Ihre jeweiligen Forderungen durchbringen und dabei möglichst wenig Federn verlieren – Kann das beiden gelingen?

Verhandeln ist eine der Hauptaufgaben der Sozialpartner. Die Angestellten Schweiz sind keine Ausnahme, sie nehmen regelmässig an Verhandlungen teil, zum Beispiel im Rahmen von Massenentlassungen respektive der Aushandlung von Gesamt- oder Firmenverträgen. 2018 verhandelt der Verband drei Gesamtarbeitsverträge (GAV): in der MEM-Industrie, für den Personalverleih und den GAV der SBB. Der Firmenvertrag von BASF wurde eben abgeschlossen. „2018 ist ein intensives Verhandlungsjahr, aber Verhandeln ist eine unserer Kernaufgaben“, sagt Christof Burkard, Leiter Sozialpartnerschaft bei den Angestellten Schweiz.
Für den Verband, der auf Dialog und pragmatische Lösungen setzt, heisst die Strategie nicht, mit einer Fülle von Forderungen anzutreten, sondern primär Bestehendes zu verbessern und erweitern. Es werden auch Forderungen zugunsten einer besseren Umsetzung eines GAV gestellt. „ Was nützt ein GAV, der nicht umsetzbar ist? Es braucht auch entscheidungsfähige Organe“, gibt Christof Burkard zu bedenken. Und ergänzt: „Mit zu weit gehenden Forderungen bringt man die Gegenpartei nicht dazu, sich zu bewegen.
Gut vorbereiten und den Gegner kennen
Für Ruedi Nützi, Direktor der Hochschule für Wirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Verhandlungsexperte, müssen für erfolgreiche Verhandlungen vier Bedingungen erfüllt sein. Zu allererst gute Vorbereitung. Dazu gehöre die Ueberlegung, ob Verhandlungen überhaupt notwendig seien. „Besteht keinerlei Verhandlungsspielraum, bringen Verhandlungen wenig“, betont Ruedi Nützi. Zweitens müsse man nicht nur seine eigene Position kennen, sondern auch die der Gegenseite. „Es ist unerlässlich, Zeit in die Vorbereitung zu stecken, nicht nur, um die Position der Gegenpartei zu erfahren, sondern auch, um möglichst viele Informationen rund um die Verhandlungen zu gewinnen“, rät Nützi.
„Für die Angestellten Schweiz bedeutet eine gute Vorbereitung auch, den Puls zu nehmen, nämlich den der Mitglieder“, erklärt Christof Burkard. So führte der Verband mehr als ein Jahr vor den Verhandlungen zum neuen GAV der MEM-Industrie unter den Mitgliedern der Branche eine Umfrage durch. Deren Resultate bilden die Basis der Forderungen der Angestellten Schweiz. „Wir organisierten Anfang Jahr auch einen Informations- und Austauschanlass“, ergänzt Christof Burkard.
Ein Resultat erreichen wollen
Gute Vorbereitung allein genügt nicht, für den Erfolg braucht es auch Verhandlungsbereitschaft sowie den Willen, etwas erreichen zu wollen. „Denkt eine Arbeitnehmervertretung von Anfang an, dass sie nichts erreichen kann, wird sie nicht motiviert und sicher nicht erfolgreich sein“, sagt Ruedi Nützi. Er weist darauf hin, dass Verhandler oft auf einen einzelnen Aspekt fokussieren und statt auf das Gesamtbild, es mangle ihnen dadurch an Flexibilität und sie erreichten nichts.
Um zu einem Abschluss zu kommen, muss man Reflexionsfähigkeit haben. Mit einem Tunnelblick zu verhandeln ist kontraproduktiv. „Man muss die Verhandlungen wie von aussen betrachten“, erklärt Ruedi Nützi.
Blockaden vermeiden
Manchmal gehen Verhandlungen schief oder man braucht unzählige Runden, um zu einer Einigung zu gelangen. Fehlschläge und Unzufriedenheit gehören zu Verhandlungen. Befristete Verhandlungsunterbrüche sind normal. Deswegen aufzugeben ist aber keine Lösung. Bei Blockaden empfiehlt Ruedi Nützi einen Verhandlungsunterbruch: „Es liegt an den Verhandlungsleitern, die Situation zu entspannen und die Verhandlungen voran zu bringen“, fügt er an.
Die Angestellten Schweiz wissen, welch misslichen Folgen eine Verhandlungsblockade haben kann. Läuft zum Beispiel ein Gesamtarbeitsvertrag aus und ist noch kein neuer ausgehandelt, stehen Angestellte ohne Schutz da. Es folgt eine Phase der Rechtsunsicherheit. Darum ist der Verband überzeugt, dass man nicht mit der Idee, das Unmögliche möglich zu machen, loslegen, sondern pragmatische Lösungen im Interesse aller anstreben sollte. „Es soll weder Verlierer noch Gewinner geben“, sagt Christof Burkard. Triumphalismus ist immer fehl am Platz. Ruedi Nützi pflichtet bei: „Man darf bei Verhandlungen nicht den Fehler machen zu denken, dass der Sieg der einen Partei die Niederlage der anderen bedeutet. Man sollte vielmehr eine Win-Win-Situation anstreben.“
Mit solch guten Vorsätzen haben sich die Verhandlungsteams der Angestellten Schweiz in die diesjährigen Verhandlungen gestürzt. „Ende 2018 werden wir Bilanz ziehen“, sagt Christof Burkard. „Wir wollen für unsere Mitglieder und alle Angestellten Verbesserungen erzielen, aber auch sicherstellen, dass die GAV umsetzbar bleiben.“
Virginie Jaquet
Kurse zum Thema Verhandlungen
>> Modul Kommunikation und Verhandlungstechnik für Arbeitnehmervertretung