Interview mit Rudolf Strahm zum Inländervorrang
„Die politische Elite hat die Interessen der Arbeitnehmer ignoriert“
Viele inländische Arbeitskräfte fürchten die ausländische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Das findet der ehemalige Preisüberwacher und Nationalrat Rudolf Strahm nichts als logisch. Er kritisiert die aktuelle Politik und fordert einen sanften Inländervorrang.

Herr Strahm, die Angestellten Schweiz machten im Januar unter den Lesern ihres Newsletters eine Umfrage zum Thema Inländervorrang – angeregt durch Ihren entsprechenden Vorschlag im der Tages-Anzeiger. Das Resultat hätte kaum eindeutiger sein können: 148 Teilnehmende sprachen sich für einen Inländervorrang aus, 36 dagegen, 2 waren unentschieden. Wie interpretieren Sie dieses Ergebnis?
Diese eindeutige Zustimmung zum Inländervorrang erstaunt mich nicht. Hätte man die über 50-Jährigen gefragt, wäre das Resultat noch eindeutiger. Bis 2007 wurde der Inländervorrang angewandt. Man kennt diese Praxis und die Prozedur. Seit der Aufhebung des Inländervorrangs ist die Rekrutierung von ausländischem Personal geradezu explodiert.
Wie erklären Sie sich die offensichtliche Angst weiter Kreise der erwerbstätigen Bevölkerung vor der ausländischen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt?
Viele haben negative Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel wurden hochqualifizierten inländischen Fachkräften mit Höherer Berufsbildung junge deutsche Uni-Absolventen vor die Nase gesetzt, die mit einem akademischen Titel daher kommen. Mit viel Selbstbewusstsein und Blendertum sagen sie vom ersten Tag an, wo es lang geht. Oder ältere Fachpersonen und auch mittlere Kader über 50 wurden durch Umstrukturierungen aus dem Betrieb ausgegliedert und sie finden nun keine feste Anstellung mehr.
Was haben die Politik und die Arbeitgeber falsch gemacht, dass so viele einen Inländervorrang befürworten?
Die Forderung nach der Wiedereinführung eines Inländervorrangs ist einfach eine Reaktion aus der betrieblichen Erfahrung. Sie ist nicht ideologisch begründet, sondern existenziell. Die politische Elite hat die Interessen der Arbeitnehmerschaft bei der Ausgestaltung der Personenfreizügigkeit schlicht ignoriert. Ich erinnere mich, dass ich den damaligen federführenden Unterhändler der Bilateralen I, Staatssekretär Kellenberger, auf die möglichen arbeitsmarktlichen Verdrängungseffekte angesprochen habe. Er hat nicht einmal begriffen, worum es geht. Die Arbeitgeberschaft war natürlich sehr interessiert, ab 2007 frei, ohne Bewilligung, ohne Begrenzung und ohne Inserierung im Inland junge, billigere Fachkräfte im benachbarten Ausland rekrutieren zu können.
Die Mehrheit der Befürworter eines Inländervorrangs fanden, Inländer müssten immer Vorrang haben, Kriterien seien keine anzuwenden. Wie beurteilen Sie diese harte Haltung der Antwortenden?
Ich denke, dass es Kriterien braucht. Man muss festhalten, wo und wie ein Arbeitgeber zuerst im Inland suchen muss, bevor er Personal im Ausland rekrutiert. Ich persönlich bin für einen sanften, differenzierten Inländervorrang, der mit einem Indikatorenmodell verbunden wird: Mittels arbeitsmarktlichen Indikatoren wie Arbeitslosenquote, Fachkräftebedarf, Ausländeranteil sollten die Branchen differenziert behandelt werden. Wenn zum Beispiel – wie Ende 2014 – 3700 Bankfachleute, 3000 Informatiker, 14 000 ehemals im Gastgewerbe Tätige oder 20 000 Personen vom Bau als arbeitslos registriert sind, müssten die Arbeitgeber zuerst im Inland suchen. Es kann ja keiner behaupten, dass alle diese ausgegliederten Arbeitslosen nicht einsetzbar sind.
Lässt sich das (politisch) überhaupt umsetzen?
Der Katechismus der EU bezüglich Personenfreizügigkeit verbietet jeden Vorrang. Ich denke, dass ein Inländervorrang flexibler und marktwirtschaftlicher ausgestaltet ist, als starre Kontingente. Die Arbeitgeber hätten mehr Spielraum als bei einem Kontingentssystem und einer kontingentierenden Ventilklausel. Ich bin erstaunt, dass die Lösung mit einem Inländervorrang so wenig aufgegriffen wird, obschon sowohl Arbeitgeber als auch die Ämter diese Praxis bereits kennen und im Falle von Drittstaatenangehörigen heute noch anwenden. Würde die Schweiz einen Inländervorrang praktizieren, könnte die EU nicht direkt eingreifen. Erst wenn ein ausländischer Bürger wegen Diskriminierung klagte, wäre ein Verfahren möglich.
Sie schlugen in Ihrer Kolumne Kenntnisse der Landesprachen als mögliches Kriterium vor. Unsere Mitglieder würden, wenn schon, ein anderes Kriterium bevorzugen: einen Schweizer Bildungsabschluss (48 Nennungen gegenüber 16, welche die Kenntnisse der Landessprachen nannten).
Wer in der Schweiz arbeiten und verbleiben will, hat die örtliche Landessprache zu erlernen. Das ist eine Minimalvoraussetzung für den Verbleib und für die Integration. Es ist einer der absurdesten Auswüchse der Personenfreizügigkeit, dass das EU-Recht uns verbietet, zum Beispiel Portugiesen, die in der Schweiz verbleiben wollen, zu einem Sprachkurs zu verpflichten. Die EU-Dogmatik meint, dies sei eine Diskriminierung. Wenn man hingegen so weit gehen wollte und auch eine schweizerischen Berufsabschluss zur Bedingung machte, hätte dies wohl viel extremere, diskriminierendere Auswirkungen.
Einige unserer Grenzgänger-Mitglieder reagierten sauer auf unsere Umfrage. Es wurde vorgeschlagen, die Grenzgänger durch den Inländervorrang nicht zu benachteiligen.
Ich könnte mir gut vorstellen, und würde dies auch begrüssen, dass die Grenzgänger einen Sonderstatus erhalten. Diesbezügliche Lösungen hat ja auch der Bundesrat bei seinem Umsetzungskonzept zur Diskussion gestellt.
Der Inländervorrang scheint unter der erwerbstätigen Bevölkerung in der Schweiz in der Tat ein grosses Bedürfnis zu sein. Welche Verantwortung haben die Politik und die Arbeitgeber in dieser Frage?
Ein (vielleicht differenzierter, sanfter) Inländervorrang hätte in der arbeitenden Bevölkerung die grösste Akzeptanz, wahrscheinlich eine viel höhere als starre Kontingentslösungen. Intuitiv habe ich das Gefühl, dass sich auf längere Sicht eine Personenfreizügigkeit nicht durchsetzen lässt, wenn nicht wenigstens ein Inländervorrang damit verbunden ist. Vor allem die über 50-Jährigen werden sonst die Quittung ausstellen. Sie waren schon bei der Masseneinwanderungsinitiative ausschlaggebend für die Annahme. Heute fallen ab 55 Jahren in jedem Jahrgang rund 6000 aus dem Arbeitsmarkt und verschwinden aus der Statistik. Wenn jede und jeder zehn anderen dies erzählt, summieren sich diese existenziellen Ängste in die Zehn- oder Hunderttausende. Die politische Elite hat dieses stille Drama einfach ignoriert.
Wie könnte der Inländervorrang ausgestaltet werden, damit er kompatibel ist mit den Bilateralen und damit er die Wirtschaft nicht einschränkt?
Warum kann man die Arbeitgeber nicht verpflichten, zum Beispiel eine Stelle drei Mal in der Schweiz auszuschreiben und dies zu melden, bevor sie über eine Personalvermittlungsfirma im Ausland Personal suchen? Das ist ja keine massive Einschränkung der unternehmerischen Freiheit. Im strengen Sinn ist allerdings auch diese Lösung nicht kompatibel mit der Personenfreizügigkeit. Aber de facto werden Inländerbevorzugungen auch in andern EU-Staaten praktiziert. In Finnland muss man finnisch können, wenn man eine Dauerstelle will.
Wie beurteilen Sie die Vorschläge bezüglich eines Inländervorrangs, die der Bundesrat im Rahmen der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative gemacht hat?
Der Bundesrat will einen Inländervorrang nur für Stellen der öffentlichen Verwaltung. Das ist eine Placebo-Lösung: unbedeutend, unwirksam, bloss täuschend.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass wir in zwei, drei Jahren einen Inländervorrang haben werden?
Im Moment ist alles offen. Ich wage keine Voraussage. Wenn die Wirtschaft genügend powert und Angst macht, wird es möglich sein, kurzfristig den Verfassungsartikel betr. Masseneinwanderung (BV 121a) auszuhebeln. Aber stellen Sie sich vor: Wie sieht eine Schweiz politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich sagen wir im Jahr 2025 oder 2030 aus, wenn wir jedes Jahr eine Bruttozuwanderung von 150 000 Personen aus dem Ausland verkraften müssen? Der Zuwanderungsdruck aus den europäischen Armutsgebieten ist nämlich ein Langfristphänomen und wird nicht aufhören. Der Bundesrat hat dazu keine langfristige Perspektive und keine Strategie.
Interview: Hansjörg Schmid