Gespräch mit Hanna Muralt, ehemalige Vizekanzlerin der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Die Digitalisierung voran bringen
Wenn wir den Prozess der Digitalisierung von Arbeit, Bildung und Gesellschaft gut hinbekommen, kann die Schweiz an der Spitze sein. Davon ist die ehemalige Vizekanzlerin unseres Landes überzeugt. An ihrem Beitrag soll es nicht fehlen.

Frau Muralt, Sie waren bis 2005 Vizekanzlerin der Schweizerischen Eidgenossenschaft und bis 2007 noch mit einem Sonderauftrag beschäftigt. Nach Ihrer Pensionierung eröffneten Sie Ihr eigenes Büro und betreuen verschiedene Mandate im Bildungsbereich. Warum geniessen Sie nicht einfach Ihren Ruhestand?
Als Vizekanzlerin (1991-2005) erhielt ich einen einmaligen Einblick in die schweizerische Politik – ein grosses Privileg. Bereits während dieser Zeit interessierte ich mich für die neuen Technologien mit ihrem Veränderungspotenzial und initiierte E-Government-Projekte. In den letzten beiden Jahren (bis Ende 2007) vor meiner Pensionierung konnte ich mir als Sonderbeauftragte für internationale Fragen einen Überblick über die diesbezüglichen Aktivitäten in der OECD verschaffen. Mir wurde klar, dass die Schweiz in verschiedenen Bereichen zurücklag und ich mich nach der Pensionierung hier engagieren wollte. Ich geniesse den Ruhestand, indem ich ihm mit meiner Arbeit Sinn gebe.
Bis 2012 waren Sie Präsidentin der Schweizerischen Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote, als Delegierte sind Sie weiterhin für das SSAB-Netzwerk aktiv. Was bezweckt diese Stiftung?
Die Schweizerische Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote (SSAB) ist rechtlich gesehen eine Stiftung – ohne finanzielle Ressourcen, aber mit einem interessanten Netzwerk, in dem heute rund 80 Organisationen vertreten sind. Sie will die Behörden – Bund und Kantone – bei der Umsetzung der Strategien für eine digitale Schweiz unterstützen und setzt die Hebel dort an, wo die Wirkung am grössten ist: bei der Bildung. Stets liegt der Fokus der SSAB auf der digitalen Transformation im Bildungswesen.
Digitalisierung ist doch etwas für Junge. Warum setzen Sie sich als Pensionierte noch damit auseinander?
Die digitale Transformation ist keine Altersfrage, jedoch eine Frage, wie wir die Schweiz in eine prosperierende Zukunft führen.
Da kann die SSAB sicher einen Beitrag leisten. Was genau macht sie?
Die Einzigartigkeit der SSAB liegt darin, dass sie quer über bestehende Organisations- und Bereichsgrenzen hinweg Kontakte schafft – über alle Bereiche der formalen, non-formalen und informellen Bildung in den unterschiedlichsten öffentlichen und privaten Lebenswelten. Die wichtigste Aufgabe ist die Pflege des Netzwerks.
Warum ist das so wichtig?
Ich glaube, dass die Innovation immer an den Nahtstellen entsteht. Dies gilt ganz besonders auch für die Nahtstelle zwischen den öffentlichen Bildungsinstitutionen und der Privatwirtschaft.
Bildungsinstitutionen wie die ETH werden aber gerne kritisiert, wenn sie sich die Forschung von privaten Unternehmen finanzieren lassen.
Private Unternehmen und auch verschiedene Stiftungen engagieren sich zunehmend im öffentlichen Bildungsbereich. Dies kann für beide Seiten interessant sein. Es braucht aber ethische Richtlinien und projektweise schriftliche Vereinbarungen zwischen den öffentlichen Schulen und den privaten Partnern, z. B. zu den Qualitätsstandards, zum Datenschutz, zu Leistungen und Gegenleistungen etc. Diese Vereinbarungen müssen transparent gemacht werden. Der Schweizerische Lehrerverband nimmt sich dieser Fragen an und erarbeitet entsprechende Grundlagen.
Mit welchen Instrumenten vernetzen Sie Ihre Mitglieder?
Die jährlichen März-Tagungen der SSAB sind das wichtigste Gefäss für diesen Informations- und Erfahrungsaustausch im SSAB-Netzwerk. Vier Mal im Jahr erscheint zudem ein Newsletter. Dort weisen wir auf die Tagungen unserer Mitgliedorganisationen hin oder machen einen Rückblick darauf – und wir kommentieren Interessantes, das wir im Internet entdeckt haben.
Der Bundesrat hat eben eine Strategie für eine digitale Schweiz verabschiedet. Was halten Sie davon?
Die neue Strategie vom April 2016 schliesst an frühere Versionen an, bei denen ich als Vizekanzlerin auch schon mitgewirkt habe. Sie ist als Massnahme der Legislaturplanung 2015-2019 konzipiert und zeigt die Richtung klar auf. Die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche fordert alle Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft heraus, sie muss deshalb bereichsübergreifend, interdisziplinär und vernetzt angegangen werden.
Herausgefordert ist besonders auch der Bereich Bildung.
Unter den acht Aktionsfeldern betrifft eines die Wissensgesellschaft, das umfasst Bildung, Aus- und Weiterbildung, Forschung und Innovation sowie Kultur. Besonders an der digitalen Strategie gefällt mir die Neuerung, wonach alle zwei Jahre eine nationale Konferenz zu ausgewählten Themen der Informationsgesellschaft stattfinden soll, dies mit dem Ziel, Synergien aus der Zusammenarbeit von bundesinternen und –externen Akteuren bei der Strategieumsetzung zu schöpfen. Genau dies macht die SSAB für den Bereich Bildung. Die SSAB könnte also an einer nationalen Konferenz Wesentliches zum Thema Bildung / Wissensgesellschaft beitragen.
Wie gut ist die digitale Strategie geeignet, die Schweiz zum digitalen Land zu machen?
Eine Strategie gibt die Richtung vor, stellt Gefässe zur Verfügung und kann das Bewusstsein für die Wichtigkeit der strategischen Ziele fördern. Soll die Umsetzung gelingen, müssen alle Stakeholder in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aktiv werden und gemeinsam die Digitalisierung vorwärts bringen. Die digitale Transformation lässt sich jedoch nicht von oben verordnen. Wichtig sind innovationsfördernde Rahmenbedingungen und Anreizsysteme, damit innovative Persönlichkeiten – und die gibt es überall – die Chancen packen und mit ihren Projekten „Schule machen“ können. Meine Vision ist eine Schweiz, die als digitales Labor diese Transformation in die richtigen Bahnen leitet, Chancen nutzt und Risiken vermindert – zum Wohl aller. Die kleinräumigen, föderalistischen Strukturen könnten statt als Bremse als Katalysator wirken.
Wo sehen Sie, bezogen auf das Bildungswesen, den grössten Handlungsbedarf?
Die Strategie „Digitale Schweiz“ sieht vor, dass Bund und Kantone im Rahmen der bildungspolitischen Zusammenarbeit ihre Strategien aufeinander abstimmen und es wird auf das Bildungszusammenarbeitsgesetz hingewiesen, welches auf den 1. Januar 2017 in Kraft tritt. Wir haben mit der Schweizerischen Koordinationskonferenz ICT und Bildung (SKIB) zwar ein Organ von Bund und Kantonen, jedoch kein eigentliches Steuerungsorgan wie z.B. im E-Government. Ich hoffe, dass mit dem Bildungszusammenarbeitsgesetz eine vergleichbare Struktur mit einem Portfolio geschaffen wird. Das Steuerungsorgan müsste auch – wie z. B. die künftige Innosuisse – Leuchtturmprojekte fördern können.
Wie sieht es in Bezug auf die Weiterbildung aus?
Je dynamischer die digitale Transformation voranschreitet, desto grösser wird der Weiterbildungsbedarf. Das Weiterbildungsgesetz, das ebenfalls am 1.1.2017 in Kraft treten wird, hält im Artikel 7 fest, dass Bund und Kantone für transparente Verfahren zur Anrechenbarkeit von Weiterbildung und informeller Bildung an die formale Bildung sorgen sollen. Dieser Artikel ist für die digitale Transformation im Bildungswesen sehr wichtig. Die SSAB setzt sich deshalb für das Label „Modell F“ ein. Bei diesem Modell wird das in der beruflichen und ausserberuflichen Praxis erworbene Wissen und Können validiert und den Bildungs- und Ausbildungsgängen auf Stufe Tertiär angemessen angerechnet. Diese werden dadurch verkürzt und kostengünstiger; sie können – F für Flexibilität – erst noch den zeitlichen Möglichkeiten der Lernenden angepasst werden. Das ermöglicht eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, ständiger Weiterbildung, Familie und Privatleben. Dieses Modell funktioniert im Bereich der Informatik. An der März-Tagung 2015 der SSAB wurde aufgezeigt, dass mit dem Modell nicht nur die Weiterbildung effizient organisiert werden kann, bereits arbeitslos gewordene etwas ältere Informatiker wurden so wieder in den Arbeitsmarkt zurückgeführt.
Wie gut sind die Primarschulen für die digitale Gesellschaft gerüstet?
Der neue Lehrplan 21 sieht ein Modul Medien und Informatik vor. Für die Umsetzung werden massiv mehr Geräte, ein leistungsfähiges Netzwerk und eine Anbindung ans Internet benötigt. Für die Infrastruktur der Schulen sind die Gemeinden zuständig.
Die dann genau dort den Sparhebel ansetzen…
In der Aufgabenteilung liegt tatsächlich ein Problem: Der Kanton macht Vorgaben, die Gemeinden sollen bezahlen? Vielleicht liegt die Lösung darin, dass künftig alle Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Gerät haben, nach dem Motto „bring your own device“. Sonst fehlen einfach die Geräte. Wenn es nur eines pro sieben Schüler gibt, ist kein sinnvoller Unterricht möglich. Aber die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur stellt Gemeinwesen vor grosse Herausforderungen. Es wäre zielführend, diese Aufgabe mit einem „public private partnership project“ anzugehen („public private partnership“ = öffentlich-private Partnerschaft).
Wie weit und wie gut ist unser Bildungssystem für die Herausforderungen der Digitalisierung gerüstet?
Die digitale Transformation unseres Bildungswesens steht erst in den Anfängen. Die Voraussetzungen wären dank bisheriger Leistungen aber gut. Die Frage ist, ob wir in der Schweiz die Zeichen der Zeit verstehen. Da habe ich leider einige Zweifel, was die breite Bevölkerung anbelangt. Die erwähnte digitale Strategie will richtigerweise einen Dialog in Gang bringen; die Stakeholder aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind nun gefordert, Aktivitäten zu entwickeln.
Wo wird die Schweiz in fünf oder in zehn Jahren stehen?
Wenn wir es gut machen, können wir an der Spitze sein, wenn wir es schlecht machen, fallen wir zurück. Wir gestalten heute, was morgen sein wird.
Gespräch: Hansjörg Schmid
Zur Person
Die ausgebildete Lehrerin Dr. Hanna Muralt Müller übernahm 1987 die Leitung des Direktionssekretariats des Schweizerischen Bundeskanzlers. Von 1991 bis 2005 war sie Vizekanzlerin der Schweizerischen Eidgenossenschaft und Mitglied der Leitung der Bundeskanzlei. 2005 bis 2007 war Hanna Muralt Müller Sonderbeauftragte für internationale Fragen. Nach der Pensionierung eröffnete sie ihr eigenes Büro und hält verschiedene Mandate, u.a. Schweizerische Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote.
Zitate
„Die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche fordert alle Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft heraus.“
„Die Frage ist, ob wir in der Schweiz die Zeichen der Zeit verstehen.“
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