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Das Online-Magazin der Angestellten Schweiz

Arbeiten wir unter einer kommunistischen Diktatur?

Die amerikanische Philosophieprofessorin Elizabeth Anderson betrachtet in einem Buch die Arbeitgeber als eine private Regierung, der sich die Angestellten unterwerfen (müssen). Sie stellt ihnen ein schlechtes Zeugnis aus.

„Stellen wir uns eine Regierung vor, die fast jedem einen Vorgesetzten zuweist, dem man gehorchen muss. Obwohl die Vorgesetzten den meisten Untergebenen eine Arbeitsroutine vorgeben, der zu folgen ist, gibt es keine Herrschaft des Rechts. Die Anweisungen können willkürlich erfolgen und sich ohne vorherige Ankündigung oder Einspruchsmöglichkeit jederzeit ändern. Die Vorgesetzten sind gegenüber denjenigen, die sie herumkommandieren, nicht rechenschaftspflichtig. Sie sind von ihren Untergebenen weder gewählt noch von ihnen absetzbar. Die Untergebenen haben bis auf wenige eng definierte Fälle kein Recht, bei Gericht Beschwerde darüber einzulegen, wie sie behandelt werden. Sie haben zudem kein Recht darauf, bei sie betreffenden Anweisungen beratend beigezogen zu werden.“ Was die amerikanische Philosophieprofessorin Elizabeth Anderson im zweiten Kapitel ihres Buchs „Private Regierung“ beschreibt, ist nicht Situation in einem dystopischen Roman oder in einer Diktatur, sondern in unserer westlichen Arbeitswelt – die für sie durchaus einer kommunistischen Diktatur gleichkommt. Wie kommt sie auf diese Einschätzung?

Der freie Markt als Befreier

Im ersten Teil ihrer Ausführungen blickt Elizabeth Anderson auf die Zeit vor der industriellen Revolution zurück, als der Moralphilosoph Adam Smith, der als Begründer der klassischen Nationalökonomie gilt, seine Überlegungen zum Markt anstellte. Die Professorin kommt zum Schluss, dass Smith und andere Verfechter des freien Marktes ebendiesen als eine Befreiung der bis dahin in Knechtschaft lebenden Bevölkerungsgruppen (Menschen ohne Landbesitz und Rechte) sahen. „Smith schildert die Marktbeziehungen als egalitär: Die an einem Handel beteiligten Parteien interagieren unter den Gesichtspunkten gleicher Autorität, gleichen Ansehens und gleichen Status“, schreibt sie. Smith glaubte gemäss Anderson, dass dies eintreffen werde, weil genügend Land vorhanden war und jeder einen Handel aufziehen konnte. Dies galt zumindest für Männer – die Rechte der Frauen waren damals erst am Rande ein Thema.

Der freie Handel ist längst verwirklicht, der Kapitalismus blüht. Warum sieht Elizabeth Anderson die heutige Arbeitswelt als kommunistische Diktatur?

Industrielle Revolution macht einen Strich durch die Rechnung

Entgegen der Sichtweise vieler Ökonomen betrachtet die Philosophin die Vision einer egalitären Gesellschaft von Adam Smith & Co. als gescheitert. Der freie Markt habe sich etabliert, ohne dass in der Arbeitswelt alle die gleichen Rechte hätten.

Als Grund des Scheiterns macht Anderson die industrielle Revolution aus. Sie habe dazu geführt, dass statt vieler kleinster und kleiner Betriebe grosse Industriebetriebe entstanden, die durch ihre schiere Grösse und dank Skaleneffekten (sie können günstig produzieren, da sie grosse Mengen herstellen) eine enorme Marktmacht ausübten. Die kleinen Leute konnten nicht mithalten, da sie weder konkurrenzfähig produzieren konnten noch über genügend Kapital zur Gründung eines grösseren Betriebs verfügten. So blieb ihnen nichts übrig, als Lohnarbeit in den grossen Industriebetrieben anzunehmen. Die Industriebosse nutzten ihre Abhängigkeit aus und bezahlten schlechte Löhne. Damit konnten sie ihre Marge nochmals verbessern.

Unternehmensführung als Regierung betrachtet

Anderson kritisiert die positive Sichtweise der liberalen Ökonomen in Bezug auf den freien Markt als verkürzt. Adam Smith & Co. würden missbraucht, um ein System zu rechtfertigen, das diese gar nie wollten. Man dürfe das Gesellschaftssystem nämlich nicht rein ökonomisch, sondern müsse es auch moralisch betrachten. Da zeige sich, dass es für die unteren Schichten nach wie vor schlecht bestellt sei.

Um dies anschaulich zu machen, behilft sie sich mit der Betrachtung der Unternehmensführung als Regierung. Damit wird ein Vergleich mit tatsächlichen (demokratischen) Regierungen möglich und es offenbaren sich die Unterschiede und die moralischen Defizite in der Unternehmensführung, wie sie eingangs zitiert sind. Die Darstellung von Anderson mag aus Sicht von Angestellten in der Schweizer Industrie überspitzt sein, die Professorin führt aber eine ganze Reihe von Beispielen in US-amerikanischen Betrieben ein, welche ihre deutlichen Worte durchaus rechtfertigen.

Diktatur am Arbeitsplatz

Einige Beispiele gefällig? 90 Prozent der Beschäftigten in amerikanischen Restaurants berichten davon, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Bei mehr als 1500 Überprüfungen von Bekleidungsfabriken im Süden Kaliforniens durch das Arbeitsministerium kam zutage, dass in 93 Prozent der Fälle gegen das Arbeitsrecht verstossen wurde. Eine Studie über die Arbeitsbedingungen in der Geflügelindustrie fand heraus, dass die „grosse Mehrheit“ der Beschäftigten nicht die Erlaubnis hatte, mit der Arbeit angemessen zu pausieren, um die Toilette aufsuchen zu können. Viele sind gezwungen, Windeln zu tragen! Eine andere, auf einer Umfrage unter Managern und Beschäftigten basierte Studie schätzt, dass etwa sieben Millionen Arbeitnehmer von ihren Chefs unter Druck gesetzt werden, einem politischen Kandidaten oder Streitpunkt den Vorzug zu geben, und zwar unter Androhung von Stellenverlust, Lohnkürzungen oder Fabrikschliessung. In der Supermarktkette Walmart, die fast 1 Prozent der Erwerbstätigen in den USA beschäftigt, beklagen sich die Angestellten regelmässig über das rüde und drangsalierende Verhalten von Managern.

Am schlimmsten ergeht es in den Vereinigten Staaten der ganz untersten Schicht, den Einwanderern, wo über Betrug, erzwungene Arbeit ohne Bezahlung, Vergewaltigung, Schläge, Folter, Einsperren am Arbeitsplatz, Isolierung, religiösen Zwang oder psychologische Manipulation berichtet wird. Wesentlich besser behandelt werden hingegen Angestellte in höheren und insbesondere in den höchsten Positionen sowie solche, die über Qualifikation verfügen, die selten und stark nachgefragt sind. Es ist in der US-Arbeitswelt, so scheint es, wie vor der industriellen Revolution.

Schweiz ist besser dran

„Aber doch nicht bei uns in der Schweiz!“, denken Sie jetzt wohl. Es stimmt schon, Windeln müssen wir bei der Arbeit keine tragen und bei Lidl Schweiz wird man, davon wollen wir ausgehen, nicht wie in Deutschland aufgedeckt, mit versteckten Kameras bespitzelt. Aber die digitale Überwachung kann auch in unserem Land beängstigende Ausmasse annehmen. So berichtete kürzlich der Blick über die Zeiterfassung bei der Post. Den Postboten wird nicht die effektiv geleistete Arbeitszeit für eine Tour angerechnet, sondern die Durchschnittszeit, die mittels einer App errechnet wird. „Wer langsamer ist, arbeitet gratis, wer schneller ist, zieht den Zorn der Kollegen auf sich, da er den Schnitt drückt“, schreibt der Blick und kommt zum Schluss, dass das System das perfekte Rezept sei, „um jegliche Solidarität zu zerstören“.

In der Schweiz wurden bisher in der Tat weniger Skandale im Zusammenhang mit skandalösen Arbeitsbedingungen aufgedeckt als in anderen Ländern. Was nicht heisst, dass sie nicht vorkommen. In der Industrie herrschen, so beobachten die Angestellten Schweiz, dank guter Sozialpartnerschaft ganz sicher viel bessere Arbeitsverhältnisse als in den geschilderten Branchen in den Vereinigten Staaten. Was aber auch für die Schweiz in diversen Branchen gilt sind oft deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen für die unteren Schichten.

Gegenkritik

Im Buch äussern sich vier weitere Professorinnen und Professoren kritisch zu den Ausführungen von Elizabeth Anderson. Auf deren Kritik entgegnet dann wiederum Anderson. Dabei zeigt sich Andersons philosophischer Blickwinkel. Sie betrachtet die Gesellschaft nicht nur historisch, politisch oder ökonomisch wie ihre Kritiker*innen, sondern auch und vor allem moralisch. Aus diesem erweiterten Blickwinkel kommt sie zu ihren teilweise sehr radikalen Schlüssen.

Vom Standpunkt einer Arbeitnehmerorganisation aus gesehen sind Andersons Aussagen jedoch nicht so abwegig. Auch wenn die Arbeitsbedingungen vielerorts besser sind als im Niedriglohnsektor in den USA, gibt es hierzulande ebenfalls Jobs, in denen die Angestellten bevormundet und gegängelt werden. Davon ist in den Medien immer wieder zu lesen.

Mehr Mitsprache der Angestellten

Elizabeth Anderson fordert keine Revolution, um den Angestellten am Arbeitsplatz zu mehr Freiheit und Gleichheit zu verhelfen. Sie fordert weder mehr Demokratie am Arbeitsplatz, die Abschaffung der Hierarchien noch den Besitz der Unternehmen durch die Mitarbeitenden. Dies alles sei schwierig umzusetzen und führe kaum zum Ziel. Vielmehr sieht die Professorin vier  andere Möglichkeiten: Abwanderung, Beschränkung der Arbeitgeber durch die Herrschaft des Rechts, verfassungsmässige Rechte und Mitsprache.

Mit Abwanderung ist gemeint, dass die Angestellten eine Stelle zugunsten einer anderen verlassen können. Die Herrschaft des Rechts bedeutet, dass die Arbeitgeber nicht tun und lassen können, was sie wollen, sondern nur, was rechtlich erlaubt ist. Die Angestellten wiederum haben auch Rechte. „Ich bin der Meinung, dass [diese] drei allein nicht ausreichen, denn die Arbeitnehmer brauchen eine gewisse Mitsprache an ihrem Arbeitsplatz, um sie vor einem Machtmissbrauch des Arbeitgebers zu schützen“, schreibt Anderson. Als gutes Beispiel für Mitsprache nennt sie Deutschland. In der Schweiz ist das Mitwirkungsgesetz ein Papiertiger und es ist bisher politisch nicht gelungen, ihm scharfe Zähne zu verpassen. In einigen Gesamtarbeitsverträgen, z.B. dem GAV der MEM-Industrie, sind die Mitwirkungsrechte aber besser ausgebaut und haben sich seit Jahrzehnten bewährt.

Mehr Mitwirkung dank neuer Führungsmodelle

Allzu konkret wird Elizabeth Anderson mit ihren Forderungen für eine bessere Arbeitswelt nicht. Schade ist, dass sie sich gar nicht mit neuen Führungsmodellen auseinandersetzt, wie sie von Frederic Laloux oder Bernd Oestereich propagiert und in diversen Unternehmen bereits umgesetzt werden (vgl. dazu Apunto 2/2018 sowie den Kasten rechts). Sie sind in vielen Organisationen geeignet, die von Anderson geforderte Freiheit und Gleichheit von Arbeitskräften zu fördern. Denn sie stärken die Mitwirkung der Angestellten, indem sie die Verantwortung und die Entscheidungsgewalt nach unten delegieren. Damit überwinden sie ein Stück weit auch die Hierarchien. Für die Angestellten kommt dies allerdings zum Preis, dass sie die Verantwortung für ihr Tun und Lassen voll und ganz übernehmen müssen (vgl. dazu „Viele sind gefangen in den eigenen geistigen Mauern“).

Ansätze, in der Arbeitswelt von der „kommunistischen Diktatur“ wegzukommen sind also vorhanden und die Erfahrungen sind ermutigend. Wenn die Beispiele Schule machen, wird Elisabeth Anderson hoffentlich in einigen Jahren feststellen dürfen, dass sich die Arbeitswelt zum Positiven verändert.

Hansjörg Schmid

Montag, 27. Mai 2019

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Zum Buch

Elizabeth Anderson. Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden). Suhrkamp Verlag.